Bücher lesen: This Is Not An Atlas – A Gobal Collection Of Counter-Cartographies
[Diese Buchbesprechung ist auch in der aktuellen Ausgabe der Gai Dao abgedruckt.]
Unter dem Motto „The Three Cs: Critical, Counter and Cartography“ (deutsch: Die drei Cs: kritisch, gegen und Kartografie) ist im September 2018 das mächtige Buch „This Is Not an Atlas“ im Transcript Verlag erschienen. Auf 346 Seiten zeigen uns das kollektiv orangotango+ als Herausgeberin und 41 Autor*innen bzw. Gruppen aus der ganzen Welt was Gegen-Kartografie ist und wie sie zu politischem Handeln von Unten beitragen kann.
Das Buch ist komplett auf Englisch geschrieben. Das ist sicher seinem transnationalen Charakter geschuldet, macht es aber erheblich anstrengender, die Texte zu verstehen, auch wenn mensch wie ich einigermaßen Englisch kann. Das Gute ist aber, dass das Buch nicht nur durch seine Texte zu uns spricht, sondern in erheblichem Maß auch durch seine Grafiken und Fotos. Und die sind so verschieden, bunt und aussagekräftig wie die Artikel der Autor*innen und Gruppen, die buchstäblich aus der ganzen Welt kommen.
Kartografie kennen wir alle aus der Schule: Ihr Endprodukt ist z.B. der kiloschwere Schulatlas, den ich jahrelang zum Erdkundeunterricht mitschleppen musste, oder die riesigen aufgerollten Karten, die umständlich am dazugehörigen Ständer befestigt werden mussten. Heutzutage haben viele täglichen Umgang mit Routenplanern und Onlinekarten.
Karten, Atlanten und Globen scheinen einen neutralen, realistischen Blick auf die Geografien unserer Städte und der Erde zu geben, verschweigen aber dem*der unbedarften Betrachter*in z.B. ihre verzerrenden Größendarstellungen und ihren eurozentristischen Charakter. Historisch und politisch war und ist das Kartografieren von Land immer auch ein Herrschaftsinstrument. Es werden Grenzen festgelegt, Besitz aufgezeigt und Macht gefestigt.
Der Nichtatlas will diesen Blick aufbrechen, indem er mit wunderschönen, verstörenden, wimmelnden, auf den Kopf gestellten, traurigen, Mut machenden und inspirierenden Karten, Grafiken, Fotos und den dazugehörenden Geschichten zeigt, dass auf der ganzen Welt Menschen mit ihren eigenen Mitteln ihre eigenen Karten anfertigen für ihre eigenen Zwecke: Zur Verhinderung von Räumungen, zur Visualisierung von sicheren Fluchtwegen, zur Unterstützung der Verteidigung der Commons, zum Schutz indigener Communities und der Regenwälder, zum Aufzeigen von sexueller Belästigung oder Obdachlosigkeit u.v.m.
Hier zwei Beispiele:
Im Kapitel „Counter-Cartographies as a Tool for Action“ (Gegen-Kartografie als ein Werkzeug für Aktionen) nimmt uns der Artikel „A View from Above – Balloon Mapping Bourj Al Shamali“ (Eine Sicht von oben – Bourj Al Shamali mit dem Ballon kartografieren) mit in das libanesische Flüchtlingslager Burj al-Shemali. Hier leben palästinensische Geflüchtete teilweise in der dritten Generation auf engstem Raum ohne funktionierende Infrastruktur in großer Armut. Lokale Gruppen wollten ein Projekt für städtische Landwirtschaft und Grünflächen starten und mögliche freie Plätze sowie Wasserquellen dafür finden, mussten aber bald lernen, dass es keine verlässliche Karten von Burj al-Shemali gab. Auch online verfügbare Luftaufnahmen waren nicht hochauflösend genug. Schließlich entschieden sich die Leute dafür, eigene Luftaufnahmen mittels einfachster Technik zu machen: Mit einem selbstgebauten Ballon, an dem eine Digitalkamera angebracht war. Es war nicht leicht, die Bewohner*innen von Burj al-Shemali auf ihre Seite zu ziehen: Flüchtlingslager zu kartografieren wird mit militärischer Überwachung und Kontrolle assoziiert. Aber ein knallroter Ballon, dessen Leine direkt zu seinen Pilot*innen führt, war eher unverdächtig, lud zudem zu Diskussionen über die Macht der Kartografie ein und ermöglichte durch die Einfachheit seiner Technik vielen – gerade jungen – Menschen die Teilhabe an dem Projekt. Sie konnten sich direkt in die Verbesserung ihrer Lebensumstände einbringen.
Im Kapitel „Counter-Cartographies Tie Networks“ (Gegen-Kartografien knüpfen Netzwerke) beschreibt der Text „X-Ray of Soy Agribusiness in the Pampa and Mega-Mining in the Andes“ (Durchleuchten der Soja-Agrarindustrie in der Pampa und der Mega-Bergbauindustrie in den Anden) des Aktivist*innen-Duos Julia und Pablo ihre Arbeit in Workshops mit Menschen in Argentinien. So erstellten sie gemeinsam z.B. eine Karte – Otra Pampa es posibile!!! (Eine andere Pampa ist möglich!!!) – , die aufzeigt, was die umweltzerstörende, monopolistische Agrarindustrie in der Pampa anrichtet. Eine andere Karte entstand in Zusammenarbeit mit den Menschen in den Distrikten nahe der Anden und zeigt, wie die Übertage-Riesenminen von chinesischen und kanadischen Konzernen die Ökosysteme zerstören und die Gesundheit der dort lebenden Menschen angreifen. Die Autor*innen schreiben „Maps have to be part of a bigger process, one of many strategies, a means to foster thinking, to socialize knowledge and practices, to boost collective participation, to work with strangers, to swap experiences, to challenge hegemonic spaces, to promote creation and imagination, to probe specific issues, to visualize resistances and to point out power relationships…“ („Karten müssen Teil eines größeren Prozesses sein, einer von vielen Strategien, ein Mittel um das Nachdenken zu fördern, um Wissen und Praktiken zu teilen, um kollektive Teilhabe zu fördern, um mit Fremden zu arbeiten, um Erfahrungen auszutauschen, um hegemoniale Räume herauszufordern, um Bildung und Vorstellungskraft zu fördern, um spezielle Themen zu erforschen, um Widerstand zu visualisieren und um Verflechtungen von Macht aufzuzeigen…“).
Wer sich nun selbst als Kartograf*in auf den Weg machen will, bekommt im Kapitel „How to Become an Occasional Cartographer“ (Wie ich ein*e gelegentliche*r Kartograf*in werde) diverse Anleitungen.
Das Buch ist ein gelungenes Sammelsurium von widerständigen Praxen direkter Aktion aus der ganzen Welt, es inspiriert, macht Mut und lässt (zumindest mich) Karten in Zukunft ganz anders betrachten.
Und zum guten Schluss: Ihr könnt dieses echt coole Buch als PDF in hoher Qualität herunterladen (s. Infokasten): Der Verlag und das Herausgeber*innenkollektiv haben es unter dem Label Open Access und der Lizenz Creative Commons Attribution 4.0 (BY) veröffentlicht.
Als Papierbuch kostet es 34,99 €.
Infos, Download und Verlag notanatlas.org transcript-verlag.de/978-3-8376-4519-4/this-is-not-an-atlas/