Pandemie – eine utopische Geschichte aus der Zukunft

[Dieser Text ist auch in der 10. Sonderausgabe der Gai Dao enthalten: Pandemischer Ausnahmezustand.]

Pandemie – eine utopische Geschichte aus der Zukunft

Wir schreiben das Jahr 2079. Es hat seit der Corona-Pandemie, die ab 2019 mehrere Jahre auf der Erde gewütet hatte, keinen vergleichbaren globalen Virenausbruch mehr gegeben. Klar, es gab 2037 die SARS-CoV-3-Epidemien. Die beschränkten sich aber auf einzelne Länder und Regionen und liefen sehr glimpflich ab, da wir aus der Pandemie von 2019 gelernt hatten: Nicht nur, dass die weltweite Gesundheitsversorgung auf viel breiteren Fundamenten aufgestellt war und den Menschen gehörte, nein, ab 2022 hatten sich auf der ganzen Erde tiefgreifende Umbrüche und Transformationen ihre Wege gebahnt.

Die Erfahrungen mit SARS-CoV-2 und die Erkenntnis, dass – wenn wir nichts unternehmen – die Klimakatastrophe der menschlichen Zivilisation ein Ende bereiten würde, führten zu ungeahnten Synergieeffekten und in immer mehr Ländern zu mal langsameren, mal sehr schnellen friedlichen und gewalttätigen Veränderungen der Wirtschaftsweise und der Art, wie wir als Gesellschaft Entscheidungen treffen. Heute leben wir weltweit in einer sehr freien Gesellschaft. Die Produktion von Gütern und Energie und die Angebote von Dienstleistungen orientieren sich an den Bedürfnissen der Menschen und ordnen sich ökologischen und sozialen Belangen unter. Wir konnten alle gemeinsam die schlimmsten Auswirkungen der Klimakrise abwenden. Niemand benutzt in diesen Tagen das Wort „Anarchie“. Aber ich als alter Knacker von 91 Jahren tue das mit großer Befriedigung. Schließlich hatte ich so lange ich denken kann genau dafür gekämpft: Für die weltweite Anarchie. Es gibt keine Regierungen mehr, weder demokratische, sozialistische, faschistische, oligarchische oder was auch immer für seltsame Formen es damals gegeben hatte. Die Menschen haben viele neue hierarchiefreie Formen der Selbstorganisierung entwickelt oder sich auf alte besonnen. Lokal kommt es immer wieder vor, dass Gemeinschaften zurückfallen in barbarische Zeiten und einzelne Menschen oder Gruppen es schaffen, so viel Macht zu erlangen, dass wir von einer Regierung sprechen könnten. Wenn denn die Regierten dort bleiben würden. Sie gehen einfach weg und schließen sich den Nachbar-Communen an. Der*die neue König*in sieht dann ganz schön alt aus. Meistens taucht er*sie dann früher oder später ebenfalls bei den Nachbar*innen auf, zerknirscht und reumütig. Aber solche Fälle werden immer seltener. Der letzte, von dem ich hörte, trug sich 2071 irgendwo im ehemaligen Bayern zu. Wenn ich meinen jüngeren Commune-Genoss*innen Anekdoten aus meiner Jugend erzähle, halten sie diese oft für Märchen oder Übertreibungen eines Alten: Motoren, die schädliche Abgase absondern? Tiere ausbeuten und essen? Kohle verbrennen, um Strom herzustellen? Jeden Tag acht Stunden oder mehr für einen anderen Menschen arbeiten, damit ich nicht verhungern muss? Grenzen, die uns daran hinderten, uns frei zu bewegen? Heute alles im wahrsten Sinne des Wortes undenkbar. Die Transformation ging rasend schnell und verdrängte sehr gründlich das Alte.

Aber zurück zu den Viren oder besser gesagt zu dem neuen Virus, der uns ganz schön zu schaffen machte. Das Forscher*innen-Team, das ihn 2074 zuerst in die Finger bekam und untersuchen konnte, gab ihm den schönen Namen „SARS-BolTru-1“. Also immer noch ein SARS-Virus, der eine schwere Lungenkrankheit auslösen konnte. „BolTru“ in Erinnerung an zwei Regierungschefs, die sich in der Corona-Krise ab 2020 durch ihre besonders schwachsinnigen Entscheidungen, Empfehlungen und Behauptungen hervortaten: Bolsonaro und Trump. Jair Bolsonaro, ein evangelikaler Faschist (beide Begriffe werden euch gerne auf der guten alten Wikipedia erklärt), war Präsident vom damaligen Brasilien und weigerte sich, die Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 anzuerkennen, selbst dann noch, als die Menschen zu tausenden wie die Fliegen starben. 2021 wurde er bei der Erstürmung des Regierungsgebäudes, in dem er sich in einer Besenkammer versteckte, von aufgebrachten Angehörigen der Opfer gelyncht. Später kam heraus, dass er zu diesem Zeitpunkt schon selbst schwer an CoVid-19 erkrankt war. Sein Gott hat ihm nicht geholfen. Donald Trump war Präsident der ehemaligen USA und ein narzisstischer White Supremacist. Diese Irren waren doch tatsächlich der Überzeugung, dass Menschen mit hellerer Hautfarbe („weiß“) Menschen mit dunklerer Hautfarbe („schwarz“, „gelb“, „braun“,…) in allen Belangen überlegen seien. Sie unterteilten die Menschen in sogenannte „Rassen“, obwohl schon damals klar war, dass das rein biologisch gesehen totaler Blödsinn war und es keine Menschenrassen gibt. Aber das war ihnen egal. Fakten spielten für solche Menschen noch nie eine Rolle. Sie wollten in Hierarchien denken und leben. Sie brauchten Menschen, denen sie weniger Wert zuschreiben konnten, um sich selbst zu erhöhen. Naja, auf jeden Fall war Trump mit Schuld daran, dass in den USA hunderttausende von Menschen sterben mussten, weil er sich weigerte, geeignete Maßnahmen in die Wege zu leiten und total bescheuerte Heilungsmethoden vorschlug. Er selbst starb viele Jahre später in einem Commune-Pflegeheim, wo er von Menschen mit allen Hautfarben bis zu seinem altersbedingten Tod würdevoll versorgt wurde.

BolTru war ganz schön heimtückisch. Er hatte eine Inkubationszeit von drei Wochen, während der Wirt schon hochansteckend war. Patientin Null war eine Ärztin, die mit einer Gruppe Lern-Kollektivistas im Dschungel vom ehemaligen Königreich (noch so ein Märchen…) Kambodscha unbekannte Heilpflanzen suchte. Sie wurde im Schlaf unbemerkt von einem infizierten Flughund gebissen und steckte sich so an. Bis bei ihr die ersten Symptome auftraten, hatte sie schon viele Menschen angesteckt. Auch wenn wir nicht mehr so viel und schnell reisen und so viele Güter um die Welt schicken wie vor 60 Jahren, hatte der Virus Zeit, sich über Tröpcheninfektion ganz schön weit auszubreiten. Die Lern-Kollektivistas kamen von drei Kontinenten. Viele von ihnen reisten zur Feier des Freiheitstages mit dem Solargleiter oder dem Continental-Speeder nach Hause, wo sie den Virus dann unwissentlich weitergaben. Bis hierher ähneln sich die Ausbreitungsszenarien. Ab hier ist vieles anders. Das Forscher*innen-Team in Mumbai, das BolTru entdeckte, veröffentlichte seine Ergebnisse sofort im Sci-Net und informierte alle Communen, Föderationen und kontinentalen Ratschaften. Keine Funktionär*innen oder Bürokrat*innen konnten dazwischengrätschen, um sie mundtot zu machen, weil sie Repression oder einen „Imageschaden“ für sich und ihre Regierung befürchteten. Keine finanziellen Interessen spielten an irgendeiner Stelle eine Rolle: Es gibt schon seit 2054 kein Geld mehr, geschweige denn wirtschaften wir profitorientiert. Der Kapitalismus hatte sich nach und nach selbst überwunden mit großer Hilfe von millionen Projekten auf der ganzen Welt, die ihn in immer mehr Nischen ersetzten, bis ein Kipppunkt erreicht war und er 2048 zusammenbrach, ohne alles mit in die Tiefe zu reißen. Es gab überall ausgefeilte Pläne für den Fall einer Pandemie und zu ihrer Eindämmung. Sie unterschieden sich lokal und regional zwar in Punkten, hatten aber eins gemeinsam: Sie beruhten auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, Erfahrungen aus der Vergangenheit und Vernunft. In allen Commune-Gesundheitshäusern lagerten Vorräte an Infektionsschutzausrüstung. Für jede Fachperson gab es drei wiederverwendbare Komplettausrüstungen. Es gab genug Desinfektionsmittel und genug Intensivbetten mit genügend Beatmungsgeräten. Die schnell erarbeiteten BolTru-Tests wurden in ausreichender Zahl hergestellt und verteilt. So konnte flächendeckend getestet und erkrankte Menschen isoliert und versorgt werden. Über das Federations-Net – das ehemalige Internet – wurden die Ratschläge zur Bekämpfung des Virus verteilt, in den Commune-Plena und Quartiers-Treffen besprochen und ihre Umsetzung geplant. Es brach keine Panik aus. Klopapier wurde nicht gehortet (was wahrscheinlich daran lag, dass es keines mehr gibt: Die Tatsache, dass sich unsere Vorfahr*innen den Arsch mit trockenem Papier – oft aus toten Bäumen hergestellt – abgewischt haben, ist heute eines dieser Märchen, die ich zum Besten gebe…). Lebensmittel wurden nicht tonnenweise auf Vorrat gekauft (was wahrscheinlich daran lag, dass es nichts zu „kaufen“ gibt: In den Distributionshäusern nimmt sich jede*r das, was er*sie braucht oder will). Verschwörungstheorien waren sowieso unbekannt, da die Gesellschaften transparent, von unten und von uns selbst organisiert sind. Die Menschen agierten in den allermeisten Fällen rational und gelassen. Es kam kaum zu Konflikten, auch wenn manchmal bestimmte Güter knapp wurden. Gegenseitige Hilfe und freiwillige Kooperation waren so in Fleisch und Blut der Menschen übergegangen, gehörten so zum Alltag unserer Leben, dass „Hamstern“, „Betrug“, „Stehlen“ gar nicht mehr zum Handlungsrepertoire gehörten, ja nicht einmal mehr im Wortschatz vorkamen. Die Menschen trugen einen Mund-Nasen-Schutz, hielten Abstand zueinander, wuschen sich regelmäßig gründlich die Hände und praktizierten das Niesen und Husten in die Ellenbeuge, weil sie wussten, dass diese Verhaltensregeln Sinn machten. Da Arbeit nicht als Lohnarbeit existierte, es keine Chef*innen oder Vorgesetzten gab, konnte sie in der Krise anders und sicher für alle organisiert werden. Keine*r musste Angst davor haben, seine Wohnung zu verlieren oder zu hungern.

Es erkrankten viele und es starben einige Menschen an BolTru. Aber eine Pandemie im eigentlichen Sinne konnte verhindert werden. Der Virus wurde innerhalb von sieben Wochen nach dem ersten Auftreten eingedämmt. Über den Globus verteilt forschten unzählige Teams offen und frei an einem Gegenmittel und einem Impfstoff. Sogar auf der GSS Greta (das GSS steht für Global Space Station, die Nachfolgerin der ISS) wurde experimentiert. Nennenswerte Ergebnisse wurden dort zwar nicht erzielt, aber als Nebenprodukt entdeckten die Wissenschaftler*innen ein erstaunlich wirksames Haarwuchsmittel, das aber – wie sich später herausstellte – nur in Schwerelosigkeit wirkte. Alle Ideen, Verfahren, Ergebnisse und Erkenntnisse – auch Fehlschläge – wurden sofort im Sci-Net gepostet und in den dortigen Diskussions-Foren erörtert. Innerhalb von sechs Monaten gab es ein Gegenmittel und nach elf Monaten einen Impfstoff. Darauf gab es keine Patente, Copyrights oder andere Beschränkungen, die den Profit eines Konzernes sichern sollten, sondern die Herstellungsverfahren waren allen Menschen auf der Erde lizenzfrei zugänglich. Ganz im Sinne von Jonas Salk, dem Erfinder des Polio-Impfstoffes in den 1950er Jahren. Er erwiderte schon damals auf die Frage, wer denn das Patent besitze: „Alle Menschen. Es gibt kein Patent. Können Sie die Sonne patentieren?“ Alle entsprechend ausgerüsteten Einrichtungen wie Labore und Lern-Kollektive stellten sie her und verteilten sie an die Gesundheitshäuser der Communen.

Das an meinem Lebensabend zu erleben, hat mich zutiefst beruhigt und mir gezeigt, dass unsere neuen Gesellschaften eine gute, stabile Basis haben, nämlich uns Menschen. Damals während der Corona-Pandemie fußte so ziemlich alles auf Herrschaft, Profit und Wachstum. Das war wie ein Fundament aus trockenem Sand: Bei jedem kleinen Regenguss – wir nannten es „Krise“ – kam alles ins Rutschen, zerfiel und riss die Menschen mit sich in den Abgrund. Ich bin jetzt über 90 Jahre alt und sehe zuversichtlich in die Zukunft, weil ich erlebt habe, zu was wir fähig sind. Wir haben aus unseren Fehlern gelernt und werden unseren Kindern und Kindeskindern eine wieder einigermaßen bewohnbare Erde hinterlassen. Die Erde wird mir leicht sein.

Hiermit endet mein kleiner Bericht. Ich muss mich jetzt auf den Weg zum Commune-Plenum machen. Dort gibt es immer so leckere Sauerkraut-Muffins.

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