Bericht zum (geplatzten) Berufungsprozess gegen Jan am 6. Februar

Der 31. Mai 2017 mit der Blockade der Abschiebung eines Berufsschülers nach Afghanistan hat in Nürnberg zahllose Menschen beschäftigt. Nicht nur was die Vorkommnisse des Tages, die Polizeigewalt und das nachhaltige Gefühl der Solidarität betrifft, sondern auch im Nachgang: die Kämpfe um die Deutungshoheit des Tages, die Diffamierungskampagne der Polizei und Politik gegen die Aktivist*innen und nicht zuletzt die Begleitung der vielen von Repression Betroffenen. Bald zwei Jahre ist dieser Tag nun her und die Prozesse laufen noch immer. Am Mittwoch, den 06.02., fand in diesem Zusammenhang der Berufungsprozess gegen Jan statt, der jetzt mit einem sehr leisen Knall zu Ende ging. Die Berufung wurde von Staatsanwaltschaft und Verteidigung zurückgezogen, womit das Urteil gegen Jan aus erster Instanz rechtskräftig wurde: Er wurde wegen Widerstand zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen (2.700 Euro) verurteilt.
Dieses Urteil kann nur in Zusammenhang mit all den anderen Geschehnissen, die der 31. Mai nach sich zog, betrachtet werden. Denn dieser Tag und dabei vor allem die enorme Kriminalisierung, die darauf folgte, können im Nachhinein als stellvertretend für vieles begriffen werden, das wir derzeit unter dem Begriff „Rechtsruck” in der Gesellschaft verhandeln:
Menschen schließen sich zusammen, um gemeinsam und solidarisch für einen anderen einzustehen und dessen Abschiebung zu verhindern – was gleichzeitig heißt, in lauten Widerspruch zum herrschenden System zu treten und sich dem aktiv in der Weg zu stellen. Die Cops mögen es nicht, wenn ihnen jemensch im Weg steht, und versuchten den Protest mit krasser Gewalt klein zu kriegen. Das Ausmaß der Gewaltorgie der Polizei war selbst für langjährige Aktivist*innen erschreckend. Für viele der Abschiebungsgegner*innen, unter denen logischerweise sehr viele Schüler*innen waren, war es sogar die erste Erfahrung mit Polizeigewalt. Umso eindringlicher wirken die Bilder bis heute. Schlagstöcke, Pfefferspray, Hunde, gepanzerte Einsatzkräfte, die wild um sich schlugen, Menschen verletzten und körperliche und seelische Schäden gleichermaßen hinterließen. Es war ein massiver Gewalteinsatz, um eine andere massive Gewalthandlung durchzusetzen.
Der Polizeieinsatz rief in breiten Teilen der Gesellschaft eine Empörung hervor, wie sie selten so umfassend nach solchen Einsätzen aufkommt.
Dies lag wohl auch an bestimmten Voraussetzungen. Die Abschiebung sollte nicht wie gewöhnlich heimlich still und leise aus dem Bett heraus passieren, sondern fand im öffentlichen Raum und aus einer Schule heraus statt. Viele der Blockierenden waren Mitschüler*innen und handelten aus einem spontanen Gefühl der Solidarität heraus. Zusätzlich waren neben den Aktivist*innen auch Medienvertreter*innen, Pfarrer*innen und viele andere Menschen vor Ort, die den Einsatz der Polizei filmten – und dieses Mal der Kriminalisierung im Nachgang nicht nur stillschweigend zusahen, sondern sich an die Öffentlichkeit und Politik wandten, um den Polizeieinsatz laut zu kritisieren.
Die Cops und das bayerische Innenministerium gerieten (zunächst) in Zugzwang und mussten sich für ihr Vorgehen rechtfertigen. Zum einen in Bezug auf die Gewalt, zum anderen aufgrund der Feststellung eines Gerichtes, die Abschiebung sei nicht legal abgelaufen.
Während dieses Urteil für die meisten der wütenden Schüler*innen wohl auch dann keine große Rolle gespielt hätte, wenn es, wie so häufig, die Abschiebung als „rechtens” eingestuft hätte, so war diese Feststellung für die legalistisch ausgerichtete, bürgerliche Öffentlichkeit doch von einiger Bedeutung. Denn es erlaubte auch jenen, die eigentlich Befürworter*innen des „demokratischen Rechtsstaates” sind, zu bemerken, dass ebendieser Staat sich nicht um eigene Regeln schert, wenn es um Polizeigewalt und/oder Abschiebungen geht. Indem an diesem präzisen Fall in aller Deutlichkeit die Willkür der Abschiebebehörden und ihrer Helfer*innen in Uniform klar wurde, stärkte die Debatte auch Unterstützer*innenkreisen für Geflüchtete und ähnlichen antirassistischen Initiativen den Rücken – zunächst jedenfalls.
Um die Bilder der prügelnden Cops zu rechtfertigen, mischte sich nämlich sehr bald der Innenminister von Bayern, Joachim Herrmann, ein, und sprach von einem „vorbildlichen Polizeieinsatz”, für dessen Gewalt einzig die „hinzugekommenen linken Chaoten“ verantwortlich gewesen seien. Er versuchte damit die bekannte Spaltung zwischen den „guten und friedlichen” Schüler*innen einerseits, und den „autonomen, gewalttätigen Linken” andererseits zu eröffnen. Nur als Reaktion auf die vielen Straftaten hätte die Polizei so handeln müssen. Nun mussten also solche „Straftaten” her, um diese These zu stützen.
Dieser politisch motivierte Druck, möglichst viele Menschen mit möglichst scharfen Vorwürfen zu überhäufen, begleitet uns seither. Ein lokales Solidaritätsbündnis („Widerstand Mai 31 – Solidarität ist kein Verbrechen”) gründete sich, um die Aktivist*innen zu unterstützen. Das war auch nötig, denn der Staat war fleißig beim „Straftaten” finden und Vorladungen verschicken. Ein Aktivist landete für 5 Monate in U-Haft. Eine andere Aktivistin wurde wegen dem angeblichen Wurf einer PET-Flasche per Öffentlichkeitsfahndung gesucht (der einzige Fall in jüngerer Geschichte außerhalb des G20-Kontextes). Es gab Besuche vom Staatsschutz vor der Arbeitsstelle, Beeinflussung von Zeug*innen (gerade im bürgerlichen Spektrum), Verbote an der Schule noch mehr Öffentlichkeit herzustellen,… Um nur ein paar Beispiele aufzuzählen. Insgesamt wurden über 20 Menschen angeklagt. In fast jeder dieser Anklagen fanden sich die berühmt-berüchtigten (und just am Vortag des 31. Mai verschärften) Paragraphen 113/114 StGB.
Dass die Cops bei ihren Anzeigen immer übertreiben, ist schon klar. Wie sehr sie übertrieben, war dann fast doch wieder ein Überraschung: Ein Aktivist wurde beispielsweise wegen Widerstand, tätlichem Angriff, Körperverletzung und versuchter Gefangenenbefreiung angezeigt, da er angeblich sein Fahrrad „mit Kraft” zwischen die Cops geschoben hätte, um eine Festnahme zu verhindern. Was sagen die Videos? Es gab zwar ein Fahrrad, das hat jedoch niemanden von den Cops bei ihrer Prügelorgie behindert. Reicht trotzdem für eine Verurteilung wegen Widerstand und einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten auf 3 Jahre Bewährung! Doch auch dieses aberwitzig hohe Strafmaß reichte der Staatsanwaltschaft noch nicht aus und sie ging in Berufung – wie bei fast allen Verhandlungen rund um den 31. Mai. Gleiches gilt für unseren Genossen Jan.
In erster Instanz wurde er wegen Widerstandshandlungen zu einer Geldstrafe verurteilt, obwohl sich auch in dieser Gerichtsverhandlung das gleiche Bild gezeigt hatte wie in den Verhandlungen anderer Aktivist*innen zuvor: Videos und Aussagen der Cops passten nicht zusammen und die Anklage wirkte reichlich konstruiert. (Einen ausführlichen Prozessbericht gibt es in der Gaidao Nr. 93 (09/2018). In dieser aufgeladenen Stimmung erwarteten wir seinen Berufungsprozess mit besonders großer Spannung. Das Urteil würde nicht für sich alleine stehen, sondern auch über eine noch offene Bewährungsstrafe von Jan entscheiden.
Bis zuletzt zeichnete sich ein ähnliches Szenario auch für den Berufungsprozess ab: Massiv aufgebauschte Anklagen, eine Menge geladener Polizeizeug*innen und hohe Sicherheitsauflagen für alle Prozessbeobachter*innen und -teilnehmenden. Die Staatsanwaltschaft hatte ganz klar ihr Ziel verlauten lassen, es solle eine Freiheitsstrafe von mindestens 6 Monaten werden. Am 6. Februar 2019 versammelten sich also frühmorgens ca. 40 Unterstützer*innen, um den Prozess solidarisch zu begleiten.
Doch zu einer Verhandlung kam es nicht. Im Vorfeld des tatsächlichen Prozesses gab es ein Rechtsgespräch zwischen Verteidigung, Staatsanwaltschaft und dem (als Hardliner bekannten) Richter, in welchem die Staatsanwaltschaft und nach Rücksprache auch die Verteidigung die Berufung zurückzogen. In diesem Gespräch hatte der Richter ganz klar gesagt, er sehe bei dieser Beweislage eine Freiheitsstrafe und würde das auch dementsprechend verurteilen, sollte sich nichts Grundlegendes ändern. Trotz der Rückendeckung für die Forderungen der Staatsanwaltschaft durch den Richter verzichtete sie jedoch überraschend auf die Verhandlung und somit auf die Freiheitsstrafe.
Wie passt das mit der übereifrigen Staatsanwaltschaft der Vergangenheit zusammen? Wie mit der bisher so klar erkennbaren Absicht, die Aktivist*innen vom 31. Mai möglichst hart abzustrafen?
Tatsächlich können wir an diesem Punkt nur Spekulationen anstellen. Es mag ein Motiv gegeben haben, das sich uns als Justizkritiker*innen wohl erst recht nicht erschließt – sei es nun schlichte Überarbeitung der Staatsanwaltschaft (wie von der Verteidigung vermutet), „interessantere” Fälle, mit denen sie sich die Staatsanwaltschaft wollte, oder bloße Überreiztheit vom 31. Mai und eine Lustlosigkeit, sich erneut damit zu befassen, bzw. das öffentliche Interesse, das dazu geführt hätte, sich für eine Verurteilung eventuell rechtfertigen zu müssen, was noch mehr Arbeit nach sich gezogen hätte. Im besten Fall werden sich auch die intensiven Solidaritätskampagnen auf die Einschätzung der Staatsanwaltschaft ausgewirkt haben. Das Wissen, dass sich die Presse für die Urteile interessiert, dass jeder Saal voll besetzt ist, dass die Urteile nicht still und leise verkündet werden können – all dies war erfolgreich und hatte bestimmt auch Einfluss auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft.
Doch wie auch immer die genauen Gründe lauten; die Abruptheit, mit der dieser Prozess nun ein Ende gefunden hat, ist letztlich reiner Willkür geschuldet. Wir freuen uns zwar sehr, dass Jan nicht zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, aber ein bitterer Nachgeschmack bleibt. Zum einen, weil die Verurteilung wegen Widerstand weiterbesteht – die wie jeder Urteilsspruch eine Anmaßung ist und insbesondere wenn es im Kontext einer verhinderten Abschiebung passiert. Zum anderen, weil der Gedanke, dass Jan seine „Freiheit” einer bloßen Laune des Staatsanwalts zu verdanken hat, unweigerlich einhergeht mit dem Wissen, dass es auch anders hätte ausgehen können, dass er hinter Gitter gesperrt hätte werden können, dass anderen Menschen dies tagtäglich passiert.
Uns ist klar, dass genau dieses bittere Gefühl von Ohnmacht, das auch das aktuelle Urteil wieder in uns wecken möchte, das Ziel des Justiz- und Staatsapparates ist. Selbst in einem Freispruch liegt Unfreiheit, denn er setzt voraus, dass unsere Freiheit nie uns gehört; dass wir von vorneherein davon ausgehen müssen, dass sie uns genommen werden kann. Geschieht das nicht, kommen wir „noch einmal davon“, wie die Zeitungen dann schreiben oder die Richter*innen von ihrem Podest herab mahnen, so sollen wir dankbar sein für unser „Glück” und die „Gnade” des Gerichts.
Nun wurde Jan, das muss betont werden, nicht freigesprochen, sondern es wurde lediglich darauf verzichtet, eine noch höhere Strafe als ohnehin schon zu verhängen. Wir weigern uns, dafür dankbar zu sein. Denn wir sehen das Gerichtssystem als das, was es wirklich ist: Ein unabdingbares Herrschaftsinstrument des demokratischen Staates, der nicht nur mit den Schlagstöcken und Tasern der Polizei auf uns einwirken will, sondern auch perfide in den Kopf eindringt, um die Freiheit und Selbstständigkeit unseres Denkens zu brechen. Die Willkür, die in Jans Fall nun einmal zu seinem Vorteil ausgegangen ist, ist nichts anderes als ein Ausdruck ebendieser Herrschaft. Willkür ist nur denkbar in einer fest verankerten Struktur von Macht und Hierarchie, um sie sich überhaupt leisten zu können. Und genau deshalb ist sie nichts, worüber wir uns freuen oder worauf wir hoffen sollten.
Nichtsdestotrotz ist das erklärte Ziel der Kampagne „Freiheit für Jan und alle anderen” erreicht: Weder Jan noch eine*r der anderen Antirassist*innen sitzen im Knast. Auch wenn an dieser Stelle noch keine umfangreiche Auswertung der Solidaritätsarbeit innerhalb der Kampagne stattfinden kann, spricht das Ergebnis für sich. Deutschlandweit fanden Vorträge, Soliabende oder -konzerte statt, Flyer wurden verteilt, Veranstaltungen organisiert, Solibilder verschickt und in zahlreichen Städten die Straßen und Freiräume mit den Plakaten und Aufklebern der Kampagne eingedeckt… Danke an alle solidarischen Menschen, die uns in diesem Kampf unterstützt haben! Die nächste Aufgabe wird es sein, mit allen Beteiligten ein Resümee daraus zu ziehen, was gut und was schlecht lief, und zu überlegen, wie auch in Zukunft Antirepressionsarbeit sinnvoll zu organisieren ist.
Denn dass staatliche Repression in Zukunft noch weiter zunehmen wird, ist leider gesichert. Ein System, das Ausbeutung, Ausgrenzung und Unterdrückung produziert, braucht verschiedene Formen von Repression, um seine Macht zu sichern. Tagtäglich bewegt sich diese traurige gesellschaftliche Realität weiter nach rechts und wird spürbar autoritärer. Zuerst verschiebt sich das sprachliche Gefüge, wodurch rassistische, sexistische und andere unterdrückende Mechanismen einen Weg in den gesellschaftlichen Diskurs finden. Im gleichen Atemzug wird durch diese sprachliche Verrohung Minderheiten wie Geflüchteten, LGBTIQ*, Wohnungslosen usw. direkt und indirekt die Menschlichkeit entzogen. Wenn diese gesellschaftliche Realität damit einhergehend auch noch in Form von Gesetzesverschärfungen (wie z.B. Abschaffung von Asylrecht, Polizeiaufgabengesetze, Integrationsgesetze oder Abschiebelagern) zu allgemeingültigem „Recht” wird, bewegen wir uns hin zu einer noch autoritäreren Staatsform, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt.
Dies wird zweifelsohne in den kommenden Jahren noch mehr und härtere Repression nach sich ziehen. Doch lassen wir uns davon gerade jetzt nicht abschrecken, sondern höchstens noch fester davon zusammenschweißen. Unsere größte Stärke ist und bleibt die Solidarität sowie die Ablehnung jeglicher Form von Autorität und Herrschaft. Genau dies bedeutet für den Staat, das Patriarchat, den Kapitalismus und jegliche andere Spielart von Unterdrückung die größte Bedrohung. Denn um weiterhin an der Macht zu bleiben, müssen die zutiefst menschlichen Prinzipien wie Solidarität und gegenseitige Hilfe jeden Tag aufs Neue mit Füßen getreten werden. Machen wir dem ein für alle Mal ein Ende und leben schon heute nach den Prinzipien der Herrschaftsfreiheit und Solidarität!
Nur so können wir gemeinsam jede Form der Unterdrückung bekämpfen, Knäste überflüssig machen und uns der Faschisierung der Gesellschaft effektiv in den Weg stellen.