Am 9. November ging nicht nur Glas zu Bruch…

Manchmal ist es wichtig innezuhalten, aus dem Alltag herauszutreten und sich ein paar Augenblicke Zeit zu nehmen, um zu Erinnern und zu Gedenken. Heute ist so ein Tag, oder zumindest sollte heute so ein Tag sein. Denn heute jährt sich die „Reichspogromnacht“ zum 79. Mal.
Von Goebbels als „Reichskristallnacht“ verharmlost, ging in der Nacht vom 09. auf den 10. November 1938 bei Weitem nicht nur Glas zu Bruch. Es kam zu staatlich gesteuerten, von einem Großteil der Zivilbevölkerung gestützten, Gewalttaten, tausende Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnhäuser wurden angegriffen und hunderte Jüd*innen ermordet oder in den Suizid getrieben. Am 10. November wurden ca. 30.000 Jüd*innen deportiert und in Arbeits- und Vernichtungslagern interniert. Dies markiert den Übergang von staatlicher Diskriminierung hin zu einer systematischen Verfolgung und industriellen Vernichtung der europäischen Jüd*innen.(1)

Im Januar diesen Jahres hatte AfD-Politiker Björn Höcke bei einer Rede vor der Jungen Alternative (JA) in Dresden „eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“(2) gefordert. Dies reiht sich ein in die Schlussstrich-Rhetorik, welche die Neue Rechte seit Jahren pflegt. Die Strategie von AfD und PEGIDA geht darüber allerdings noch hinaus. Ihre Rhetorik ist ein politisch inszenierter Tabubruch, der Undenkbares denkbar, Unsagbares sagbar macht und damit den Weg in die Normalisierung von rassistischer, sexistischer und antisemitischer Diskriminierung ebnet. Ein Weg, der in seiner Konsequenz Menschen entmenschlicht.

Seit Anfang November wurden im Berliner Stadtteil Neukölln 16 Stolpersteine gestohlen(3), die an die Ermordeten und Verfolgten des Naziregimes erinnern. An Jüd*innen, Kommunist*innen, Widerstandskämpfer*innen, Homosexuelle, „Behinderte“ und „Asoziale“, die deportiert und in den Vernichtungslagern ermordet wurden. Diese Taten betten sich ein in ein gesellschaftliches Klima der Kälte und der Ausgrenzung, wo rechte Ideologien der Ungleichheit die Meinungshoheit über den Diskurs erlangen und ein „Kulturkampf von rechts“ geführt wird, der die Erinnerung an die Opfer der NS-Zeit tilgen möchte.

Auch wenn wir uns den Tendenzen der Faschisierung in Deutschland mit aller Kraft entgegenstellen müssen, brauchen wir doch den Raum und die Zeit, um den Toten zu gedenken, sie zu betrauern und mit ihnen den Verlust von Zivilisation und Menschlichkeit. Wir brauchen Zeit, um die Erschütterung zu spüren, welche die Gräueltaten des NS-Verbrechens in uns auslösen. Es geht nicht um verkollektiviertes, institutionalisiertes Gedenken, wie es zur Staatsräson geworden ist, sondern um die tiefe Einsicht, dass es nie wieder zu Pogromen kommen darf. Nie wieder zu zersplitterndem Glas vor Synagogen und jüdischen Läden, nie wieder zu der Ermordung von Menschen aufgrund ihrer vermeintlichen Andersartigkeit und zuletzt nie wieder zu Auschwitz.

(1) Raul Hilberg (1982). Die Vernichtung der europäischen Juden.
(2) Spiegel online vom 21.01.2017 (www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-…, abgerufen am 09.11.17, 13:35)
(3) FAZ online vom 08.11.2017 (www.faz.net/aktuell/gesellschaft/krimin…, abgerufen am 09.11.2017, 12:56)

Zum Originalbeitrag