„Vor’m Sozialamt müsst ihr das machen!“ – subjektiver Bericht und Gedanken zur „proletarian parade“
Jedenfalls haben wir keine Lust darauf, ‚Prolet‘ oder ‚Proll‘ abwertend als Beleidigung aufzufassen oder in diesem Sinne zu benutzen. Denn was sind wir denn als Lohnabhängige? Wir sind diejenigen, die nichts haben außer uns selbst. Die also gezwungen sind, Körper und Geist zu verausgaben, zu ermüden, zu verschleißen; unsere Haut, unsere Muskeln, unser Hirn, unsere Nerven, unseren Schweiß, unser Lächeln zu Markte zu tragen – sofern wir etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf haben und mal ins Kino oder Theater gehen wollen. Wir sind keine Sklav_innen, sondern wir sind so frei, Verträge darüber abzuschließen, wie diese Verausgabung geregelt ist. Und wir können uns auch ganz selbstbestimmt für HartzIV entscheiden. Yeah! Oder wir sind aus Existenzgründen von Beziehungen zu anderen Menschen abhängig, von denen wir lieber unabhängig wären. Eingeklemmtsein, Armut, Atemnot, Verachtung. Das Proletariat, eben Prolet_innen, Prolls, das sind wir. Wenn die Verhältnisse uns schon verächtlich machen, sollten wir selbst irgendetwas selbstbewusst-Kämpferisches mit dieser Bezeichnung tun. Es geht nicht um Stolz auf das Proletarisch-Sein, denn es bedeutet ja eine Armut, ein Nichtverfügenkönnen über die Mittel, die wir zum Leben brauchen. Wir wollen auch nicht so einen Quatsch wie eine ‚Diktatur des Proletariats‘, sondern: Wir wollen eine Gesellschaft, in der niemand mehr als Proletarier_in ums Überleben kämpfen muss. Leben kann und soll so viel mehr sein… (und das Denken schweift ab)
Der Untertitel der Parade lautete: „Anarchie ist machbar – in Schule, Betrieb und Nachbarschaft“. Die meisten Menschen können sich ja gar nicht vorstellen, dass es überhaupt eine gesellschaftliche Alternative geben könnte, die weder kapitalistische Marktwirtschaft noch sozialischer Staatskapitalismus ist. Wir können uns das nicht nur vorstellen, sondern gehen direkt daran, Alternativen in die Tat um- bzw. ins Werk zu setzen. Eben zum Beispiel ausgehend von Schule oder Betrieb, oder in der Nachbarschaft. Im Laufe der vorausgegangenen Tage, nämlich der „Libertären Tage„
, hatten wir in Vorträgen vorgestellt, wie das bei uns praktisch aussieht. Außerdem war uns wichtig, zu zeigen, was unserer Ansicht nach alles möglich wäre, würden noch ein paar mehr Menschen dazukommen. Wer das verpasst hat, kann sich auf unserer Website informieren, oder sich an gleicher Stelle über kommende Veranstaltungen auf dem Laufenden halten (und ansprechen oder anschreiben kann mensch uns sowieso immer).Wenn es nun aber um praktisches Erproben und Umsetzen von alternativen Formen des Zusammenlebens, des Wirtschaftens, des Entscheidens usw. geht, was soll dann eine Demonstration? Diese Frage werfe ich hier auf, weil sie sich uns natürlich selbst stellt. Wir sehen Demonstrationen als eines unserer Mittel an, wenn auch nicht als zentrales. Eine Demonstration ist oft eine eher symbolische oder repräsentative Maßnahme: Man kann etwas zeigen, auf etwas aufmerksam machen oder hinweisen, etwas laut werden lassen. Man ändert einen Umstand selbst erstmal noch nicht (es sei denn es geht z.B. genau um Unsichtbarkeit von etwas, oder um Demonstrationsrecht oder Meinungsäußerung). Wenn allerdings die Zustände so sind – und sie sind so – dass so gut wie alle (das zieht sich sogar quer durch die Linke hindurch) dem Glauben verfallen sind, es gäbe keine Alternative zum Bestehenden, dann ist es politisch schon ein wichtiger Akt, laut auf die Straße zu tragen: „Doch!“. Das ist so etwas wie: Hallo! Es gibt sie immer noch und immer wieder, diese Leute, die meinen, es ginge doch anders!
Zurück zur Parade. Wir kleines Häuflein ganz unterschiedlicher Prolet_innen – Handwerker_innen, Erwerbslose, Studierende, IT’ler_innen, usw. – paradierten also durch Löbtau, Friedrichstadt bis zum Bahnhof Mitte. Dass wir nicht so viele waren, war zwar schade, tat dem Anliegen aber im Grunde keinen Abbruch. Wir haben vielen Menschen Flyer in die Hand gegeben oder in den Briefkasten getan, vielleicht werden einige davon gelesen. Es gab Redebeiträge zum grundsätzlichen Anliegen der Demo, zu Ansätzen kollektiven Wirtschaftens, zum Arbeiten auf dem Bau und zu proletariscehm Selbstschutz gegen Nazis oder Sexist_innen (deutsch und teilw. englisch, nachzulesen s.u.). Einige Anwohner_innen schauten oder hörten von ihren Balkonen zu, mit unterschiedlichen Reaktionen von Ablehnung über Irritation zu Interesse oder freundlichem Winken. Manche, aber tatsächlich wenige, Passant_innen wollten mir (erfolglos) erklären, ‚die Flüchtlinge‘ seien ’schuld‘ an allen Übeln, die wir aufzählten. Hoffentlich denken diejenigen nochmal über die von uns gelieferten Argumente dagegen, und über die eigentlichen Ursachen ihres Ärgers nach. Ein_e Facebook-Nutzer_in stellte im Nachhinein entrüstet fest, dass wir ‚ja doch links‘ sind. Da wurde wohl das Ablehnen jeglicher (linker oder rechter oder sonstwelcher) Parteien als politische Neutralität missdeutet.
Andererseits gab es auch Passant_innen of Color, die zunächst mal auf Distanz gingen, weil unklar war, ‚auf welcher Seite‘ wir stehen. Solche Vorsichtsmaßnahmen sind für von Rassismus Betroffene im Dresdner Demonstrationsgeschehen leider notwendig. Wie können wir das vermeiden, ohne die Vorteile des Nichtgleicheinordnenkönnens aufzugeben? Vielleicht ist die Lösung nicht die Antifa-Fahne, sondern die Diversität in den eigenen Reihen (wofür noch etwas mehr tun ist als Antirassismus ‚zu demonstrieren‘).
Eine Demonstration nachzuerzählen ist nicht so richtig möglich, ich will es also gar nicht weiter versuchen. Wer dabei war, konnte feststellen, ob es ihr_ihm eher Kraft genommen oder gegeben hat. Für mich war es eine gutgelaunte Manifestation realistisch-utopischen Willens, die dazu taugte, Demo-müden Dresdner_innen den Funken eines Fragezeichens aus den Augen springen zu lassen. Und das muss man erstmal hinkriegen.
Einer wollte direkt noch mehr und schrie zu uns herüber: „Nicht hier, vorm Sozialamt müsst ihr das machen!“ Dann würde er auch kommen und alle seine Freunde mitbringen. Danke für den Tipp, vielleicht machen wir das auch tatsächlich mal. Das Sozialamt müsste natürlich auch mal was abkriegen. Aber wir sind ja keine Dienstleister_innen, die Demo-Aufträge entgegennehmen und abarbeiten Wenn euch etwas unter den Nägeln brennt, könnt ihr doch auch einfach selbst was unternehmen – wenn das inhaltlich zu uns passt, gern auch mit uns zusammen. Wenn es an Know-How fehlt, wie man z.b. eine Kundgebung anmeldet, dann können wir gern Erfahrungen weitergeben! Und dann kommen wir nämlich zu eurer Veranstaltung und bringen alle unsere Freund_innen mit
Dokumentation* Redebeitrag „Proletarischer Selbstschutz – für viele lebensnotwendig / Proletarian self-protection – life necessity for many“ (engl/dt)
* Faltblatt (Link folgt)
* A-Radio-Beitrag zu den Libertären Tagen (Link folgt)