Von Scheiterhaufen zu Scheiterhaufen – eine ergänzende Darstellung zum Text “Inquisition auf dem e*camp 2013”

In dem Anfang 2017 erschienenen Sammelband “Beissreflexe” wird im Beitrag “Inquisition auf dem e*camp 2013 – Ein Protokoll” geschildert, wie das Camp bzw. die sogenannte Awarenessstruktur des Camps mit zwei Konflikten und den darin verwickelten Personen umging. Der Text ist in einem extrem suggestiven Stil geschrieben und durch viele wesentliche Auslassungen gekennzeichnet. Wir werden dort adressiert und möchten daher einige Punkte de1s “Protokolls” ergänzen bzw. unsere Sicht auf einen Teil der Geschehnisse darstellen.

Wenn der Anspruch des Buches ernst gemeint ist, feministische Praxen produktiv zu kritisieren – wovon wir ausgehen – dann ist es unseres Erachtens kontraproduktiv, in der Darstellung der Auseinandersetzung alle Aspekte auszusparen, die nicht in das vorgefertigte Bild passen – wie in diesem Text geschehen. Auch wir kritisieren immer wieder problematische Praxen und nehmen uns dabei nicht aus. So hoffen wir unsere eigene Praxis weiterzuentwickeln. Darum veröffentlichen wir hier auch Ergebnisse unserer Nachbereitung des e*camps.

Wir, das sind e*space, eine Interessiertengruppe innerhalb der (queer-)feministischen und sexismuskritischen Gruppe “e*vibes – für eine emanzipatorische praxis”. Wir setzen uns mit emanzipatorischen Möglichkeiten zum Umgang mit Diskriminierung und Gewalt auseinander. Wir haben uns vor vier Jahren, im Vorfeld des “e*camp – gegen kapitalismus und sein geschlechterverhältnis”, Gedanken zum Umgang miteinander auf dem Camp gemacht und dazu, unter selbigem Titel, einen Text verfasst. Die Ideen und Inhalte des Textes wurden in einer öffentlichen Diskussion und einem allen Interessierten zugänglichen Livepad gesammelt, besprochen und grob vorformuliert. In diese Vorbereitungen sind auch unsere Reflexionen aus vergangenen Erfahrungen mit sogenannten Awareness-Strukturen 1 eingeflossen. Unser erklärter Anspruch war dabei von Anfang an, ansprechbar, so transparent wie möglich und offen für Kritik zu agieren.

Auf dem Camp selbst war ein Teil von uns in diese Awarenessstruktur involviert. Der Rest des Teams bestand aus Personen, die sich bereits vor und zu Beginn des Camps dafür interessiert hatten, sich dann vor Ort zusammenfanden und ein gemeinsames Vorgehen diskutierten. Auch auf den ersten beiden Plena des Camps wurden diese Überlegungen vorgestellt und eingeladen, sich zu beteiligen.
Obwohl wir, e*space, also nicht DIE ‘Awarenessgruppe’ waren, hatten wir einen großen Einfluss auf ihren Ansatz und die Inhalte.2

Wir waren auch diejenigen, die im Nachgang des Camps die von Anonyma beiläufig erwähnten Briefe schrieben und sowohl ihr als auch Lukas zukommen ließen. Diese waren das Ergebnis einer detaillierten Reflexion der Geschehnisse in kleinerer Runde. In diesen Briefen haben wir uns sowohl nochmal kritisch zu ihrer beidem Verhalten, als auch zu dem Vorgehen der Awarenesstruktur geäußert. Die Briefe wurden im März 2014 verschickt, also ca. neun Monate nach dem Camp. Den Brief an Anonyma veröffentlichen wir zusammen mit dieser Stellungnahme in anonymisierter Form.3

“weil wir was tun wollen, aber nicht an einer falschen stelle. weil wir woanders hin wollen, aber nicht in eine falsche richtung.” (aus der Ankündigung des Camps)

So. Bevor wir uns den Geschehnissen auf dem Camp widmen, folgende Selbstverständlichkeit vorweg: Unser Ausgangspunkt für die damalige Diskussion zum “Umgang Miteinander” und nun auch für diesen Text, ist die Tatsache, dass auch auf linken, feministischen, kritischen, emanzipatorischen Veranstaltungen Diskriminierung stattfindet und persönliche Grenzen überschritten werden. Das ist alltägliche Praxis in unserer Gesellschaft und niemand von uns steht außerhalb dieser. Deshalb müssen wir uns damit auseinandersetzen, wie mit solchen Situationen angemessen umgegangen werden soll. Das führt nicht zwangsläufig zu einer sinnvollen Praxis, sich der Frage jedoch nicht zu stellen, ist keine Alternative.

Emanzipatorische Praxen zu entwickeln ist ein Prozess, in dem man sich immer wieder mit dem eigenen Handeln auseinandersetzen muss. Das haben wir auch nach dem Camp getan und an Anonyma den untenstehenden Brief geschickt (an Lukas einen ähnlichen). Die Briefe waren kein erzwungenes Ergebnis einer uns von außen zugetragenen Kritik. Wir haben weder davor noch danach eine Rückmeldung bekommen, dass da was scheiße gelaufen sei. Sie waren Ergebnis eines von uns selbst als wichtig erachteten Reflexionsprozesses, der unserem Anspruch nach zu emanzipatorischer Praxis dazugehört.
Unser Austauschangebot wurde damals nicht angenommen, was für uns auch okay war. Nun ist es interessant, drei Jahre später für etwas kritisiert zu werden, an dem man schon lange weiter gemacht, gedacht, Konsequenzen gezogen – und für das man sich bei den Beteiligten entschuldigt hat. Unsere Positionen – die öffentlichen und die aus dem Brief – werden schlicht ausgespart, was schade ist, denn so kann die Diskussion nicht vorankommen.4

Es wirkt auf uns so, als ob die ‘Awareness-Struktur’ des e*camps hier als Projektionsfläche für alles herhalten muss, was – tatsächlich – was in Bezug auf Awareness- bzw. Unterstützungsarbeit kritisch diskutiert werden muss.

Auf dieser Grundlage ist eine Diskussion nicht möglich, denn das “Protokoll” lässt keine Erwiderung zu, die nicht wieder als “Beißreflex” abgetan werden kann. Es ist damit keine Kritik, sondern eine Abrechnung, die keine Auseinandersetzung und keine Rehabilitation zulässt. In unserer Arbeit setzen wir auf Selbstreflexion, Kritikfähigkeit, Einsicht, Entschuldigung und Diskussionsbereitschaft, wir haben uns erklärt und Austausch angeboten.

Angesichts dessen, dass wir nie eine Antwort, nun aber einen undifferenzierten Text dazu bekommen haben, müssen wir davon ausgehen, dass Anonyma nicht an einer Verständigung mit uns interessiert ist, sondern es ihr schlicht darum geht, e*vibes bzw das e*camp stellvertretend für alle im Buch besprochenen queerfeministischen Praxen zu diskreditieren.

Der Text löst sein Versprechen, ein Protokoll abzubilden, nicht ein. Hinter dem kritischen Anstrich können wir keinen emanzipatorischen Anspruch ausmachen, geschweige denn eine solidarische Kritik erkennen. Anonyma verfällt mit ihrer selektiven und pauschalisierenden Darstellung selbst in einen Debattenstil, der in den späteren Kapiteln des Buches mal mehr, mal weniger treffend kritisiert wird. Dabei verfehlt sie nicht nur die tatsächlich problematischen Aspekte des Umgangs mit ihr auf dem e*camp – was verschmerzbar wäre, da es ja Bemühungen um deren Aufarbeitung gab – sondern verunmöglicht auch eine (selbst-)kritische Debatte über Awarenesstrukturen und Unterstützungsarbeit in linken Kontexten generell, für die “Beißreflexe” einen neuen Anstoß hätte geben können.
Es hätte dem Buch gut getan, nicht mit diesem Text zu eröffnen.

Here we go! – Das Camp

Das “e*camp – gegen kapitalismus und sein geschlechterverhältnis” lief vom 06. – 11. Juni 2013. Inhaltliches Programm gab es vom Nachmittag des 07. bis zum Nachmittag des 10. Juni. Das Camp fand auf Burg Lohra [http://www.openhouses.de/AusgewaehlteOrte/BurgLohra] und dem dazugehörigen “Jugendfreizeitheim” 🙂 bzw. den angrenzenden Wiesen in Thüringen statt.
Das Camp war kein “Theoriecamp”, sondern ein Versuch, Theorie und lockeres Rumhängen zu kombinieren. Dazu gehörte für uns auch die Möglichkeit, zu tanzen. Schon lange vorher hatten wir angekündigt, dass es deshalb ein Soundsystem geben wird und dass Leute auch gern selbst dort Musik (ab)spielen können. Die im folgenden dargestellten Konflikte kamen am Samstag, den 08. Juni, auf und gipfelten in einem Campverweis für zwei Personen am 09.Juni. Wir beschreiben das so genau, weil es bei Anonyma so klingt, als hätte das Ganze auf engstem Raum stattgefunden, und als wäre das Camp sehr lange gegangen und sie hätte nur sehr kurz teilnehmen können.3

Wir werden nun die Geschehnisse teilweise wiedergeben. Wir werden nicht zu jeder von Anonyma angesprochenen Situation nochmal unsere Wahrnehmung schildern. Die Einseitigkeit des Textes nötigt uns allerdings dazu, einige Darstellungen zu ergänzen, auch wenn das vielleicht zunächst wie eine Aufblähung von Kleinigkeiten wirkt. Dies tun wir, um unser Handeln zu erklären, und um eine treffendere Kritik und Weiterentwicklung feministischer Praxen zu ermöglichen.

1) Konflikt um die Beschallung

Für uns begann alles am Samstag, den 08. Juni, mit der Information, dass Personen (Anonyma und Lukas) sich von der Musik gestört fühlten und diese dann versucht hätten, das mit den Soundsystem-Menschen zu klären, wobei es zu einer verbalen Auseinandersetzung gekommen sei. Anonyma und Lukas waren daraufhin zur Camporga gegangen, hatten von der Auseinandersetzung berichtet und ihr Bedürfnis nach mehr Ruhe geäußert. Die Camporga bezog Personen aus der Awarenessstruktur ein und erzählte ihnen von Lukas’ und Anonymas Beschwerde.
Beide Strukturen sprachen anschließend mit Mitgliedern des Soundsystems und ließen sich deren Sicht der Dinge schildern. Im Anschluss erarbeiteten sie einen Kompromissvorschlag und besprachen diesen sowohl mit den Soundsystem-Menschen als auch mit Anonyma und Lukas.
Beide Seiten stimmten dem Kompromiss zu. Er beinhaltete, dass während des Essens und nach 0 Uhr keine Musik gespielt werden würde. Desweiteren trug sich Anonyma auf der am Infopunkt aufgehängten Liste für Auflege-Interessierte ein, um am nächsten Tag selbst weniger basslastige Musik abzuspielen.

Auf dem abendlichen Plenum wurde der Konflikt und die Lösung vorgestellt. Leider war die Reaktion auf dem Plenum anders als von uns erwartet. Wir gingen davon aus, eine gemeinsame Lösung gefunden zu haben. Jedoch äußerten Anonyma und Lukas lautstarken Unmut und bekundeten, dass sie nicht mit dem Vorschlag einverstanden wären.

Anonyma hat, wie auch in ihrem Text behauptet, insofern Recht, dass der Kompromiss nicht gemeinsam mit ihr und Lukas erarbeitet wurde, sondern lediglich ein Vorschlag an sie war. Jedoch gab es ihrerseits keinen Änderungswunsch und sie stimmten zu. Im Gegenteil bedankten sich die beiden für unsere Vermittlung und dass wir diese Klärung herbeigeführt hätten.

Es kam es zu einer teilweise hitzigen Diskussion auf dem Plenum und hier zeigte sich auch schon der zweite Konflikt, den wir in “2) Ein importierter Konflikt” näher beschreiben werden. Der Musikkompromiss blieb bestehen und wurde vom Plenum nicht geändert. Um jedoch Raum für weitere Diskussionen hierzu zu schaffen, luden wir zu einem moderierten Gesprächskreis ein, der von Anonyma als “Inquisition im Stuhlkreis” beschrieben wurde. Dieser verlief definitiv nicht zielführend und es war eine emotional belastende Situation für viele der Anwesenden. Im Nachhinein betrachtet hätten wir ihn mindestens besser moderieren und gegebenenfalls auch eher beenden müssen.

Auch im Anschluss an das Gespräch blieb der im Vorfeld erarbeitete Musikkompromiss erhalten. Trotzdem blieb die Musik ein viel diskutiertes Thema auf dem Camp. Am folgenden Tag, Sonntag der 09. Juni, legte Anonyma dann selbst auf. Außerdem tauchte an der öffentlichen Feedbackwand ein Zettel auf, auf dem sich extrem abfällig über die Menschen am Soundsystem geäußert wurde. Diesen schrieben wir (möglicherweise eine Unterstellung) auch Anonyma zu.

2) Ein importierter Konflikt

Der zweite Konflikt begann für uns auf dem Samstagsplenum. Wie schon erwähnt kam es während dieses Plenums zu Diskussionen über die Musik und während dieser Diskussion äußerte sich auch eine bis dato unbeteiligte Person, Johanna5, zu dem Thema. Johannas Beitrag wurde von Lukas und weiteren Personen aus Anonymas Umfeld abfällig kommentiert. Johanna empfand diese Kommentare als persönlichen Angriff.

Kurz zum Hintergrund: Bereits vor dem Camp gab es ungeklärte Konflikte zwischen Lukas und ihr. In ihrer beider Herkunftsstadt wurde wie überall über richtige und falsche Formen emanzipatorischer Politik gestritten. Diese Auseinandersetzung wurde dort jedoch schon länger auch auf persönlicher Ebene ausgetragen. Uns war diese Vorgeschichte bis dahin weitestgehend unbekannt. Zudem gehörte Johanna anfangs zur Awarenessstruktur des Camps und war eng mit einzelnen Orgamitgliedern befreundet.6

Johanna nahm nach diesem Vorfall die Sache selbst in die Hand. Sie suchte sich Freund_innen außerhalb der Awarenessstruktur als Unterstützer_innen, klärte mit ihnen ihre Wahrnehmungen und Bedürfnisse und formulierte eine klare Forderung: Lukas und sie sollten sich den Rest des Camps aus dem Weg gehen und sich gegenseitig nicht direkt ansprechen. Aus unserer Sicht ist eine solche Forderung heute wie damals legitim und nicht zu viel verlangt. Die drei Unterstützer_innen baten Lukas daraufhin am nächsten Morgen zum Gespräch und erklärten ihm Johannas Forderung. Anonyma bekam das Gespräch mit und intervenierte. Daraufhin wurde ihr mitgeteilt, dass Johannas Forderung auch für sie gelte. Leider kennen wir diese Situation nur aus verschiedenen Erzählungen. Auch scheinen Johannas Unterstützer_innen konfrontativ in das Gespräch eingestiegen zu sein. Wir als Struktur erfuhren erst einige Zeit später von alledem, nämlich indem Lukas bei uns Unterstützung suchte und wir uns daraufhin mit den Hintergründen des Gesuchs auseinandersetzten.
Im Nachinhein betrachtet hätten wir es sinnvoller gefunden, als Awarenessstruktur früher einbezogen worden zu sein, um Johannas Forderung mit weniger persönlichen Vorbelastungen an Lukas kommunizieren zu können. Trotzdem muss spätestens an dieser Stelle Lukas und Anonyma klar gewesen sein, wie aufgeladen die Situation bereits war. Dies war zumindest unsere Annahme. Hier müssen wir uns natürlich auch fragen, ob man etwas annehmen kann und ob dass dann bedeutet, dass man es vorraussetzt. Wahrscheinlich wäre ein genaueres Nachfragen und Festhalten, wie aufgeheizt die Situation für uns zu sein scheint – und damit ein Abgleich zu ihren Wahrnehmungen – besser gewesen.

Gut – wir gingen also davon aus, dass es ein Bewusstsein bei Anonyma und Lukas über die Angespanntheit der Situation gab. Aus unserer Sicht löste das seitens Anonyma keine Sensibilität aus, sondern Konfrontation. Sonntag morgen traf Anonyma in der Küche auf Johanna und eine ihrer Unterstützerinnen. Statt Johannas Forderung zu entsprechen und einfach weiter ihr Ding zu machen, wollte sie Johanna – wie sie selbst in ihrem Text schreibt – konfrontieren. Sie fixierte sie mit den Augen durch ihre Sonnenbrille hindurch. Der Aufforderung die Sonnenbrille abzunehmen und das Fixieren zu unterlassen kam sie nicht nach, so dass Johanna und ihre Unterstützer_in die Küche wieder verließen.

Für Johanna brachte dieser Vorfall das Fass zum Überlaufen. Ihr Vorschlag, trotz der Probleme nebeneinander auf dem Camp zu sein, indem man sich aus dem Weg geht, war ab diesem Moment passé. Sie schloss sich in eines der von der Orga zur Verfügung gestellten Schlafzimmer ein und kommunizierte nur noch mit ihren Unterstützerinnen.

An diesem Punkt landete der gesamte Konflikt wieder bei uns in der Awarenessstruktur. Wir riefen eilig ein Krisentreffen zusammen, an dem sich auch Menschen aus der Camporga beteiligten. Für uns war schnell klar, dass es nicht tragbar ist, dass Johanna sich auf dem Zimmer einschließen muss, um Anonyma und Lukas nicht mehr begegnen zu müssen. Die Situation in der Küche war ein bewusster Bruch von Johannas Forderung, wie auch aus Anonymas Protokoll hervorgeht. Ohne dass Johanna einen expliziten Wunsch geäußert hatte, entschieden wir uns an dieser Stelle, Lukas und Anonyma des Camps zu verweisen.6

Auch der Rauswurf selbst ist aus unserer Sicht nicht optimal gelaufen.
Wir waren nicht sicher, ob Anonyma und Lukas körperlich aggressiv auf die Ansage reagieren würden. Deshalb sind wir in je einem Team von mehreren Menschen auf sie zugekommen. Dass dies als Einschüchterungsversuch verstanden werden kann, ist nachvollziehbar – wir hatten schlicht keine bessere Lösung für unser Sicherheitsbedürfnis parat.

Scheiternd schreiten wir voran..

Letztlich hatten wir also auch gute Gründe für unser Handeln, auch wenn autoritäre Strafbedürfnisse die Entscheidung mit beeinflusst haben. Letzteres haben wir rückblickend sogar explizit in unseren Briefen an Anonyma und Lukas problematisiert. Die relevante Frage, die sich für uns an diesen Vorfall anschließt, ist folgende: Warum ist es trotz unserer Reflexionen über Macht und Machtmissbrauch solcher Strukturen im Vorfeld am Ende so gelaufen? Welche Mechanismen müssen etabliert werden, um so etwas zu verhindern?

Ein Teil der Antwort ist sicherlich, diese Probleme gemeinsam und öffentlich zu diskutieren. Die Diskussion ist mit dem Buch eröffnet, jetzt muss sie noch auf eine solidarische gemeinsame Basis gestellt werden, in der aus Kritik auch eine bessere Praxis entwickelt werden kann.
Wir sind weiterhin bereit.

Grüße vom scheiternden Haufen!
e*space

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Es folgt nun der Brief an Anonyma von 2014:

Hallo Anonyma,
hier schreiben dir ein paar Leute aus der Awareness-Struktur des e*camp.

Es tut uns (1) leid, dass unsere Rückmeldung bezüglich des Camps so unglaublich lange auf sich
warten ließ. Hoffentlich ist es auch für dich so immer noch besser als gar nichts zu bekommen.

Im Anschluss an das Camp hat uns dein und Lukas Rausschmiss noch viel beschäftigt. Wir
möchten dich hiermit an unserem Prozess teilhaben lassen, indem wir dir mitteilen, wie wir unser
Handeln heute beurteilen und welche Schlüsse wir daraus gezogen haben.

Zur allgemeinen Einordnung:
Wir haben uns schon seit einer ganzen Weile davon losgesagt, dass aus der Definition einer
Situation irgendwelche Handlungsanweisungen resultieren würden und daher auch davon, dass es
diesbezüglich auf eine Definition, einen Namen für die Situation, ankäme. Gibt es eine für irgendwen unangenehme Situation, so ist die Frage: (Wie) Können wir diese (als Besondere) zum Besseren verändern? Und dabei ist uns wichtig, den Personen, denen es mit irgendwas schlecht geht, nicht ihre Gefühle abzusprechen. Außerdem ist uns grundsätzlich wichtig, parteilich mit von Diskriminierung und Gewalt Betroffenen zu sein. Das heißt ja nicht, alle geäußerten Wünsche auch umzusetzen. Heute sind wir uns zudem viel mehr der Problematik bewusst, dass zwischen Menschen die Rollen “Ausübende_r” und “Betroffene_r” von Gewalt abwechseln können und wie unmöglich es in vielen Fällen ist, festzustellen, wen man in einer konkreten Situation nun parteilich unterstützen sollte. Darüber, wie auf dies oder jenes (nicht) zu reagieren wäre, haben wir uns im Vorfeld des Camps viele Gedanken gemacht. Ebenso darüber, welche Strukturen geschaffen bzw. Absprachen getroffen werden könnten, die einerseits ermöglichen, handlungs- /entscheidungsfähig zu sein, andererseits Willkür zu minimieren.(2)
Unsere Ansprüche dabei sind zum Teil gescheitert, jedoch sind wir auch nicht mit allem
unzufrieden. Gerne möchten wir hier die Chance nutzen dir unsern Blickwinkel auf das Vorgehen
von uns als Teil der Awarenssgruppe und dein Verhalten zu erläutern. Ansonsten hier nur die Schlussfolgerung aus unseren nachbereitenden Diskussionen: Es gab wiederholt Verhalten/Auftreten von dir, das aus unserer Sicht problematisch war und das mehrere Menschen als respektlos bis angsteinflößend wahrnahmen bzw. beschrieben. Die Situation war aufgeheizt.
Aus unserer heutigen Sichtweise sehen wir den Campverweis dir gegenüber als nicht gerechtfertigt
an. Dich an diesem Punkt des Camps zu verweisen, beruhte auf der Einschätzung, dass du bewusst
grenzverletzend handeltest, und teilweise auf Des- oder Fehlinformation. Dass dies dennoch auf
diese Weise geschehen ist, tut uns leid.
Das wollten wir sagen, aber dir zudem auch das Problematische deines Verhaltens erläutern, das auch seinen Anteil daran hatte, wie die Situation verlief.(3) Es muss in Zukunft überlegt werden, wie solche überstürzten Situationen ‘gebremst’ werden können. Es muss überlegt werden, ob diese Art Herangehensweise an Zwischenmenschliches grundsätzlich falsch ist. Es muss sich was Besseres überlegt werden. Wir versuchen, einen Teil dazu beizutragen. Vielleicht kommen wir ja irgendwann auch mit dir darüber ins Gespräch – wie du willst.

Viele Grüße,
e*space

P.S.: Was du wissen solltest: Diese Mail wie auch unsere gesamte Nachbereitung dazu wird den
anderen am Awareness-Kram Beteiligten transparent gemacht, damit alle (nicht nur das o.g. “wir”)
sich darüber Gedanken machen können. Dazu zählt auch Johanna.

Details:
Die Awarenessstruktur bestand aus Leuten, die sich zum Teil erst auf dem Camp kennenlernten. Die
Basis war der vorher von uns erarbeitete Text und unser Einführungstreffen, bei dem uns teilweise unbekannte Menschen hinzukamen. Die Ansprüche der ‘Hinzugekommenen’ schienen grundsätzlich zu unseren zu passen – jedoch lag in dem sich-nicht-Kennen und nicht-dieselben-Fragengemeinsam- diskutiert-haben sicher auch ein Teil des Problems. Wir selbst waren größtenteils gleichzeitig (oder stattdessen) mit Orgakram beschäftigt. Dies war also wohl das größere Problem: unsere eigene Überlastung und das dadurch beschränkte Blickfeld. Daher möchten wir nun einen kurzen Überblick geben über unsere Sicht auf die Geschehnisse, inklusive dem was bei uns weniger gut bzw. schlecht lief, um dann am Ende nochmal auf unsere Kritik an deinem Verhalten einzugehen:

1. Konflikt zwischen dir, Lukas und anderen Personen/Parteien über die Musikwahl, -abspielmöglichkeit und ihre Lautstärke. Nachher weitergehender Konflikt auf/nach dem Plenum (Thema Musikkonflikt): Aussage von Lukas und dir, auf dem Plenum, dass kein Kompromiss gefunden worden wäre. Darstellung; euch als Kritiker_innen werde nicht zugehört/eure Bedürfnisse würden nicht wahr-genommen.
> problematisch: Dies hatte zwar nicht direkt mit dem danach Geschehenen zu tun, führte
aber bereits zu einer negativ voreingenommenen Grundeinstellung gegenüber deiner Person.

2. Anwesenheit von dir, während Lukas von Johannas ‘Unterstützer_innen’ mitgeteilt wird, dass Johanna keinen Kontakt bzw. ein gegenseitiges “sich in Ruhe lassen” wünscht
> dir dürfte nun eigentlich deutlich geworden sein, dass die Situation sehr aufgeladen ist und
dementsprechend sensibel gehandelt werden sollte.
> probl.: Absprache seitens der Vier mit der Awarenessstruktur fehlte
> probl.: es gab evtl. nie eine klare Aussage, was sich Johanna eigentlich von dir wünscht, evtl
wurdest du nur ‘mitgemeint’
> probl.: Ineinssetzung von Lukas und dir (eigentlich durchgängig)

3. Situation in der Küche. Du füllst deine Wasserflasche auf. Dabei begegnest du Johanna und einer ihrer näheren Bezugspersonen. Diese fühlen sich von dir beobachtet und fordern dich auf
wegzuschauen. Du kommst diesem Wunsch nicht nach, sondern kommentierst die Situation schnippisch bis spöttisch.
> Vermutlich konntest du die Forderung nicht nachvollziehen, aber die Frage ist, ob deine
Reaktion so sein musste oder ob nicht eine andere Reaktion angemessener gewesen wäre..
Aufgrund deines Wissens um die Sensibilität der Situation von Johanna kann das als bewusste
Verletzung angesehen werden. (Derartiges ging von Lukas nicht aus, deshalb war sein Rauswurf noch haltloser.)
> probl.: möglicherweise wusstest du doch nicht, wie schlecht es Johanna mit der Situation geht,
wurde aber von uns angenommen (mindestens wegen Anwesenheit bei 2.)
> probl.: unsererseits keine Kommunikation mit dir

4. Frage nach Rauswurf wird im Awarenesszelt diskutiert
> Anwesende: Awarenessgruppe und nochmal extra Personen der Orga
> probl.: Keine ruhige Gesprächsatmosphäre, Zeitdruck (‘es geht jemandem schlecht, ergo
wir müssen schnell irgendwas tun’ UND ‘wir haben eigentlich keine Zeit, hier zu sitzen’)
> probl.: Kein Gespräch mehr (bzw. Rückfrage an Johanna) bezüglich ihrer Wünsche den
Umgang mit der Situation
> probl./peinlich: Im Nachhinein unterschiedliche, schlimme Begründungen des Rauswurf-
Zeitpunkts (Problem soll abgeschlossen sein; Strafe; Solidaritätsbekundung an Johanna durch
schnellen Rausschmiss, bevor ihr selbst fahrt; Awareness-Leute wollen selbst zum nächsten
Vortrag)

5. Rauswurf
> probl.: du fandest eine der Personen die dir die Entscheidung übermittelt hat “aggressiv”
und “antiemanzipatorisch”; wir sind da nicht genug (auch im Nachhinein) drauf eingegangen
> probl.: Gesprächsform und -zeitpunkt nicht mit dir abgestimmt (du wünschtest es später
und in anderem Rahmen)

6. Im Nachinein kam raus: Niemand(!) hat explizit einen “Rauswurf” gefordert.
> probl.: verworrene Kommunikation und Verselbständigung des Prozesses. Passiert sehr oft
im Zuge der Anwendung von Awarenesskonzepten und ist etwas, das wir unbedingt vermeiden wollten Allgemein entstand für uns der Eindruck (Vorsicht, Unterstellungen!), du würdest auf dem Camp gezielt Grenzen strapazieren wollen. Wie weit kann ich gehen, bis die repressive Awareness-
Struktur mein Verhalten einschränkt? Leute, für die Gefühle Argumente sind, brauche ich eh nicht
ernst zu nehmen. Mal sehen, ob ich sie mit verbalen Provokationen aus der Reserve locken kann.
Dass ich sie am Ende verurteile, weiß ich sowieso schon.

In deiner Kommunikation gab es ein Hin- und Herpendeln zwischen Verständnis, Einsehen und Zugeständnis auf der einen Seite und verbal aggressivem Auftreten auf der Anderen, was uns die
Einschätzung erschwert hat, ob wir einen konstruktiven Dialog mit dir zu den genannten Punkten
hätten (weiter-)führen können. Zudem schien es zeitweise um eine (auch kollektive) Inszenierung als verhasste Kritiker_innen zu gehen. Jedoch: Allein aufgrund von Beschimpfung einer unan-greifbaren repressiven Wohlfühl-atmosphäre auf dem Camp, aufgrund von Kritik an (oder auch Meckern über) Awarenesskonzepten oder Definitionsmacht oder identitären Haufen oder sonst was wärst du nicht vom Camp geflogen. So viel ist klar. Kritik, auch unkonstruktive, ist wichtig und war auch auf dem Camp angebracht, warum nicht. Hier nun geht es um etwas anderes als Kritik-(er_innen)bekämpfung. Es ist nicht alles darunter subsumierbar – lass dich mal bitte auf den Gedanken ein. (…während wir uns darauf einlassen, dass dies hier ein Versuch der Rechtfer-tigung unserer Kritikresistenz sein könnte). Individuelles Verhalten muss ja auch irgendwie kritisierbar sein. Wobei niemand leugnet, dass das in diesem Fall schlecht gelaufen ist.

1 “Uns/Wir” bedeutet in diesem Text: die Leute, die sich das “Umgang miteinander”-Konzept fürs Camp hauptsächlich überlegt, also die dann vorhandenen Strukturen angestoßen haben – ‘wir’ sind also nicht identisch mit der Awarenessgruppe. (Ebenso sind wir nicht identisch mit der Gruppe e*vibes – es gibt allerdings große personelle Überschneidung). Dennoch sehen wir uns als verantwortlich an.
2 zu den Vorüberlegungen siehe auch: “Umgang miteinander” http://ecamp.blogsport.de/2013/05/16/umgangmiteinander/
3 Bei Lukas liegt die Sache etwas anders. Er bekommt auch eine Mail.

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1 Aus unserer heutige Perspektive finden wir den Begriff Awarenessstruktur bzw. -gruppe oft ungünstig gewählt, mit dem eine ganz bestimmte Vorstellung einhergeht. Meistens bezieht sich der Begriff auf Strukuren, die im Rahmen von Partys oder mehrtägigen Veranstaltungen in einer feuerwehrartigen Struktur kurzfristig für Menschen da sind, deren persönliche Grenze(n) von einer anderen Person überschritten wurden. Awareness bedeutet Aufmerksamkeit oder Sensibilisierung, in diesem Fall für Diskriminierung und die Überschreitung persönlicher Grenzen. Es geht daher nicht um einen bestimmten Katalog an Handlungsweisen und bezieht sich nicht nur auf das Thema sexualisierte Gewalt. Weil die Struktur auf dem e*camp so genannt wurde, werden wir im folgenden Text trotzdem über die “Awarenessstruktur” sprechen.

2 Eine Frage, die man sich hier stellen kann, ist, ob die Awarenessstruktur des Camps aus Menschen bestehen musste die sich größtenteils nicht kannten und daher auch noch nie gemeinsam in Konflikt(lösungs)situationen miteinander agiert haben. Nein, natürlich nicht – wir hätten auch ein Konzept im Vorfeld aufstellen und dann umsetzen können. Zum einen hätten wir das jedoch aus Kapazitätsgründen (zu wenig Personen um die ganze Awarenessstruktur zu stellen) nicht leisten können und zum anderen wollten wir das auch nicht. Wir fanden und finden es wichtig, dass diese Struktur von den Teilnehmenden selbst gestemmt wird. Wir wollten und wollen keine Dienstleister_innen sein, die sowas für andere machen und auch nicht solche, die ein Konzept vorarbeiten und es dann anderen überstülpen.

3 Das wirkt voll korinthenkackerinnenmäßig. Aber: Es gibt in Anonymas Text sehr viele dieser interessierten Ungenauigkeiten, die zusammengenommen das Gesamtbild verzerren, weshalb wir an einigen ausgewählten Stellen darauf hinweisen.

4 Das geht auch an Patsy L’Amour la Love als Herausgeber_in.

3 Das wirkt voll korinthenkackerinnenmäßig. Aber: Es gibt in Anonymas Text sehr viele dieser interessierten Ungenauigkeiten, die zusammengenommen das Gesamtbild verzerren, weshalb wir an einigen ausgewählten Stellen darauf hinweisen.

5 Alle Namen sind geändert.

6 Wieso thematisieren wir das hier? Ganz einfach, es hat Einfluss. Auch wenn es in vielen Fällen nicht förderlich ist, können wir uns nicht davon freisprechen, dass wir unsere Freund_innen anders behandeln als Menschen, die wir nicht kennen oder mit denen diese Freund_innen vielleicht ein Problem haben. Wir haben versucht, den Einfluss dessen möglichst gering zu halten, aber ganz ist uns dies nicht gelungen.]

7 Einen Rauswurf vom Camp hatten wir uns als letztes Mittel vorbehalten und auch die Schwelle hierfür öffentlich formuliert: “Wenn Menschen sich allerdings grundsätzlich gegen einen respektvollen Umgang miteinander wehren, werden wir sie des Camps verweisen.”

Zum Originalbeitrag