Solidarität gegen internationale Repression
Aus verschiedenen Ländern berichten Anarchist*innen über staatliche Angriffe, denen vor allem freiheitliche soziale Bewegungen ausgesetzt sind. Dazu gehören Ingewahrsamnahmen oder Festnahmen, ebenso wie brutale und auch tödliche Polizeigewalt, u.a. in der Türkei, in Großbritannien und in Kolumbien.
Türkei:
Beispielsweise in der Türkei, wo am 1. Mai 2021 zahlreiche Demonstrant*innen angegriffen wurden, die am internationalen Kampftag der Arbeiter*innen u.a. auf die bereits 1886 erhobene, anarchistische Forderung nach einem 8-Stunden-Arbeitstag aufmerksam gemacht hatten. Die „Revolutionäre Anarchistische Föderation“ (Devrimci Anarcist Federasyon) berichtet über ihre Aktionen in Istanbul und Ankara, die wegen der Corona-Ausgangssperre verboten worden waren.
Sie hatte versucht, bis zu einer illegalisierten Versammlung am Taksim-Platz zu laufen, waren aber von der Staatsgewalt vorher gestoppt worden. Dabei wurden 19 Anarchist*innen von der Polizei in Gewahrsam gebracht, aber nur 9 von ihnen am nächsten Tag wieder freigelassen. (http://afed.org.uk/may-day-2021-arrests-in-turkey/)
Eine Aktivistin berichtet darüber, wie sie von Polizist*innen gefesselt und ins Gesicht geschlagen wurde, aber das Krankenhauspersonal sich später weigerte, dies zu protokollieren. Insgesamt wurden rund um den Taksim-Platz über 250 Demonstrant*innen festgenommen, die am 1. Mai demonstrieren wollten.
(https://twitter.com/DAFederasyon/status/1389883719935201280)
Ebenfalls in Istanbul wurde der aserbaidschanische Anarchist Bayram Mammadov, welcher wegen einem Graffiti an der Statue des Diktators Haydar Aliyev gefoltert und zu drei Jahren Haft verurteilt worden war, nun tot aufgefunden. Die kürzlich gegründete anarchistische Föderation DAF hat daraufhin vor der Botschaft der Republik Aserbaidschan protestiert und den Staat für diesen Mord verantwortlich gemacht (#BayramaNeOldu).
(anarsistfederasyon.org/bayramin-katili-devlettir)
Ende März wurden in Istanbul bei einer Solidaritätsaktion mit den 24 Justizopfern des Polizeieinsatzes in der Bo?aziçi-Universität, über 50 Demonstrant*innen festgenommen. Vier von ihnen bleiben in Haft und sollen wegen Sachbeschädigung angeklagt werden, darunter zwei Mitglieder der Anarchistischen Jugend (Anar?ist Gençlik).
(anarsistfederasyon.org/bayramin-katili-devlettir)
Am 1. April war dann 38 Menschen in Gewahrsam genommen, die gegen die andauernde Repression in der Türkei protestiert hatten, darunter sechs junge Anarchist*innen, berichtet die „Revolutionäre Anarchistische Aktion“ (Devrimci Anarcist Faaliyet), welche Teil der neuen Föderation DAF ist.
(anarsistfaaliyet.org/sokak/bu-ablukayi-dagitacagiz)
Großbritannien:
In England und Wales soll derzeit ein neues Polizeigesetz („Police, Crime, Sentencing and Courts Bill“) eingeführt werden, wogegen es im März überregional starke Proteste gab. Der Staat hat sich einige besonders repressive Verschärfungen der bisherigen Gesetze ausgedacht, unter anderem bis zu 10 Jahre Haftstrafe für das Umwerfen von Statuen. Dies zielt vor allem auf die antikolonialen Aktionen während der „Black Lives Matter“-Proteste letzten Sommer. Aber auch Straßenblockaden und Sich-Festketten (Lock-On) als direkte Aktionsform vor allem der Umweltschutzbewegung soll künftig härter bestraft werden. Auch Nicht-Sesshafte sind bald noch mehr von staatlichem Rassismus und Klassismus betroffen, wobei sich die Gesetzesverschärfung ebenfalls gegen Wagenplätze, Hausbesetzungen und Protestcamps richtet.
Nach der Entführung und dem Mord eines individuellen Londoner Polizisten an Sarah Everard war eine Mahnwache durch massive Staatsgewalt geräumt worden, woraufhin landesweit Massenproteste ausbrachen. Diese richteten sich nicht nur gegen diese patriarchale Gewalt und allgemeine Polizeiwillkür, sondern auch gegen die geplante Gesetzesänderung („Kill the bill!“). Vor allem im südenglischen Bristol kam es Ende März zu Straßenblockaden und militanten Angriffen auf die Polizei. In mehreren Städten prügelten Beamt*innen wahllos auf Demonstrationen und Journalist*innen, sogar Menschenrechtsbeobachter*innen wurden festgenommen.
Gegen die aufgrund von Corona-Bedingungen verbotenen Versammlungen wurden nicht nur Knüppel und Pfefferspray, sondern auch Polizeipferde und Hunde eingesetzt. Gleichzeitig wurde versucht in den Medien mit erfundenen Geschichten über verletzte Polizist*innen Stimmung gegen die Proteste zu machen und diese zu delegitimieren. Aber durch unabhängige Berichterstattung, u.a. der Anarchistischen Föderation afed.org.uk/tag/killthebill, konnte die offizielle Version direkt als Propagandalüge entlarvt werden. Durch das neue Polizeigesetz wären jedoch solche Bild- und Filmaufnahmen nicht länger legal, sondern als Verletzung von Persönlichkeitsrechten der Beamt*innen verboten.
Kolumbien:
Ein jahrzehntelanger Bürger*krieg und ein nicht abgeschlossener Friedensprozess mit autoritären Guerilla-Milizen hatten in dem südamerikanischen Land die wirtschaftlich-politische Krise angesichts der Pandemie weiterhin verstärkt. Daher hatte das Regime des autoritären Präsident Duque kürzlich eine Steuerreform auf Kosten der verarmten Bevölkerung geplant. Doch trotz der vielen Corona-Opfer haben die Menschen ihre Angst abgelegt und angesichts der massiven staatlichen Gewalt weitet sich seit Ende April eine landesweite Protestwelle anscheinend in Richtung eines Massenaufstands aus.
Präsident Duque, der wie sein Vorgänger Uribe der rechtskonservativen Partei Centro Democrático angehört, hatte versucht mit einer Ausweitung und Erhöhung der Steuern (u.a. auf Lebensmittel) die Bevölkerung noch mehr für die Kosten der Pandemie-Krise zahlen zu lassen. Trotz allgegenwärtiger Armut, Gewalt und Korruption hat er damit einen Massenwiderstand der sozialen Bewegungen ausgelöst. Mit extremer Brutalität von Polizei und Militär versucht die Regierung die Protestversammlungen aufzulösen und zu zerschlagen.
Zehntausende demonstrierten aber trotz Ausgangssperren und Ansteckungsrisiko als die Gewerkschaften Ende April zu einem landesweiten Generalstreik aufgerufen hatten. Mit massiver Polizeigewalt versuchte die Regierung vergeblich die Bewegung zu stoppen, aber Arbeiter*innen verlängerten den massenhaften Ausstand um zwei Tage mit weiteren Großkundgebungen und Straßenblockaden. Hunderte Arbeiter*innen, Kleinbäuer*innen, Studierende und Schüler*innen wurden dabei Opfer von exzessiver Polizeigewalt.
Dutzende Demonstrant*innen wurden ermordet und fast 100 Festgenommene sind immer noch „verschwunden“. Vor allem bei Straßenkämpfen mit der Bereitschaftspolizei ESMAD (Escuadrón Móvil Antidisturbios) kam es zu zahlreichen Verletzungen durch Tränengas-Granaten und andere Geschosse. Menschenrechtsorganisationen berichten auch über Folter und sexualisierter Gewalt nach Ingewahrsamnahmen. Vor allem nachts wurden bei Straßenkontrollen des Militärs viele Menschen in den ärmeren Wohngebieten wahllos gejagt und festgenommen.
Auch wenn die Steuerreform nun vorerst auf Eis gelegt wurde, so plant die Regierung mit der Reform des Gesundheitswesens den nächsten Angriff auf die jetzt schon prekären Lebensbedingungen der Menschen in Stadt und Land, vor allem der von Rassismus und Umweltzerstörung betroffenen indigenen Gemeinschaften.
Von der breiten Repressionswelle gegen soziale Bewegungen betroffen ist auch die anarchistische Szene in Kolumbien, welche aufgrund der autoritären Verhältnisse kaum offizielle Treffpunkte hat. Aber es gibt immer wieder Berichte über kreative Aktionen, wie aufgehängte Transparente oder Graffiti. Themen sind nicht nur der permanente Kampf gegen staatliche Unterdrückung, Gefängnisse und Militarismus, sondern auch antiklerikale Aktionen gegen die christliche Dominanz in dem lateinamerikanischen Land. In den letzten Jahren fanden immer wieder anarchistische Buchmessen statt und in kleinen Bibliotheken werden Kulturveranstaltungen organisiert.
(es-contrainfo.espiv.net/tag/colombia)
Vielleicht gibt es zurzeit noch Strukturen der anarchistischen Gefangenenhilfe „Cruz Negra Anarquista“ (ABC), aber die bekannten Gruppen scheinen seit ein paar Jahren keine aktive Internetpräsenz mehr zu pflegen. Allerdings ist seit einiger Zeit die anarchosyndikalistische ULET in mehreren Städten Kolumbiens präsent (www.uletsindical.org/), die sich auch an den aktuellen Generalstreiks der Protestbewegung beteiligt und gegen die Repressionswelle kämpft. Diese Basisgewerkschaft von Studierenden und Arbeiter*innen spricht sich gegen eine Militarisierung der Sozialproteste aus und unterstützt die Forderung nach einem selbstorganisierten, unbefristeten Generalstreik (#ParoNacionalIndefinido). Außerdem rufen sie anlässlich dieser staatlichen Massaker zu internationalen Solidaritätsaktionen auf (#SOSColombiaEnDictadura).