Replik auf Ralf Burnicki
Bemerkung der Redaktion: Der Artikel von Martin von Loeffelholz, um den es geht, erschien in der Gai Dao Nr. 96 und hieß „Der Konsensfetisch des politischen Anarchismus“. In der Gai Dao Nr. 98 veröffentlichten wir eine Antwort von Ralf Burnicki.
Es freut mich, dass du, Ralf, meinen Artikel einer Reflexion unterzogen hast. Jedoch hast du ihn entweder falsch verstanden oder du willst ihn nicht verstehen. In letzterem Fall bestätigst du voll und ganz, was ich schon zuvor konstatiert habe: eine Position der Realitätsverweigerung. Dabei hinterlegst du doch mit deinem Buch „Anarchismus und Konsens“ ein solch durchdachtes und großartiges Werk!
Tatsächlich überging mein Artikel eine positive Darstellung des Konsens und das hätte ich zur Vorbeugung von Missverständnissen wohl klarstellen sollen. In der Tat schätze ich den Konsens sehr und er ist für eine emanzipatorische Praxis wie für die emanzipierte Gesellschaft selbst unverzichtbar. Es ging mir lediglich darum, nachzuweisen, dass ein Konsens nicht immer möglich ist. Eigentlich habe ich in meinem Artikel schon alles gesagt, aber ich hebe es gern noch einmal hervor:
“Die Existenz von Zwang ist nicht erwünscht, sondern eine logische Notwendigkeit“. Auch ich ziehe also den Konsens eindeutig vor, doch wie sich andere Subjekte entscheiden werden, das obliegt nicht meiner Macht. Denn „es ist absurd zu glauben, dass eine mehrere Milliarden Individuen umfassende Menschheit in einhundert Prozent der Fälle konsensual entscheiden würde“.
Des Weiteren habe ich aber auch behauptet, dass der Einsatz von Zwang auch ethisch-normativ geboten sein sollte. „Sollte beispielsweise die Weltgesellschaft sich ernsthaft dem Veto einer verschwörungstheoretischen Minderheit unterwerfen, wenn diese überlebensnotwendige Maßnahmen gegen den Klimawandel ablehnt?“. Was für ein Konsens ist es, wenn wir Entscheidungen akzeptieren, die in ihrer Auswirkung, Zerstörung von Mensch und Umwelt, nichts anderes als strukturelle Gewalt bedeuten? Muss ich mit Antisemit*innen einen Konsens finden? Mit Vogelschützer*innen, die jedes Windrad verhindern und den Ausbau der mörderischen Atomkraft vorantreiben? Ein solcher Konsens ist kein Konsens, sondern die Akzeptanz struktureller Gewalt. Der Konsens, selbst wenn er beschlossen würde, existiert in diesem Falle nicht, er ist imaginiert. Diese Imagination macht den Konsens zum Fetisch.
Du unterstellst mir einen „Hingang zu den üblichen Verfahren im Umgang mit Kriminalität“. Dabei habe ich doch die Wichtigkeit von einvernehmlichen „Täter-Opfer-Ausgleichen”, „Würde“ und „Rehabilitation“ unterstrichen und mich eindeutig vom „klassischen Verständnis von Rache und Strafe“ distanziert. Ich halte nach wie vor daran fest, dass ich gefährliche Amokläufer*innen lieber in eine geschlossene Institution gebe, anstatt sie frei herumlaufen zu lassen. Aber diese Wahrheit passt nicht in jedermenschs Märchenwelt. Nicht selten habe ich schon von „Inseln“ gelesen, auf denen delinquente Gewalttäter*innen verfrachtet und dort „in Freiheit“ umherlaufen sollten. Mir schwant Schlimmes…
Das kann, wie ich in der Gai Dao 96 geschildert habe, auch den Umgang mit Kleinkindern, Dementen und anderen Individuen mit eingeschränkter Reflexions- und Zurechnungsfähigkeit betreffen. Wer würde schon seine 12jährige Tochter um Mitternacht durch Medellín laufen lassen? Auch antiautoritäre Pädagogik hat ihre Grenzen. Wer würde sein geliebtes Kind, das unter Depressionen leidet, bei akkuter Suizidgefahr nicht in eine geschlossene Klinik einweisen? In meinem Artikel habe ich versucht zu begründen, warum solche Fälle von eingeschränkter Reflexionsfähigkeit einen „subjektlosen Zwang“ darstellen. Es ist die neurobiologische Materialität, die die menschliche Wahrnehmung und den „freien Willen“ (sofern er überhaupt existiert) erheblich beeinträchtigen kann. So ist etwa Drogenabhängigkeit offiziell als Krankheit anerkannt – der*die Abhängige entscheidet nicht (oder zumindest nicht gänzlich) frei, sondern er*sie unterliegt einem subjektlosen Zwang.
Ich ersehne mir eine Gesellschaft, die auf Konsens basiert. Doch es gibt Fälle, in denen der Einsatz von Zwang zur Vermeidung von struktureller Gewalt oder subjektlosen Zwängen von Nöten sein wird. Ich empfehle dir daher, Ralf, dir nochmals mein eingeführtes Konzept der „Anti-Macht“ zu Gemüte zu führen.
Muss ich mit einem sturzbetrunkenen Autofahrer wirklich einen Konsens schließen? Oder darf ich, notfalls gewaltsam, seinen Schlüssel klauen? Auch in einer libertären Gesellschaft wird es noch Karnivor*innen geben. Soll ich mich wirklich mit ihnen einigen, wenn sie eine neue Mastanlage bauen wollen? Konsens ist Gewalt – zumindest in einigen Situationen.