Offener Brief an die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) von der anarchistischen Gruppe Dortmund

Sehr geehrte Damen und Herren,

ihr habt uns in eurer neuen Broschüre „Antideutsche“ – links blinken, scharf rechts abbiegen…“ auf Seite 12 ein paar Zeilen gewidmet. Es freut uns, dass ihr auf diese Weise ein wenig Werbung für unsere Gruppe macht und uns Gelegenheit gebt, einige unserer Gedanken etwas auszuführen.

Es geht um unsere Intervention auf der Demo gegen das neue Polizeigesetz am 6. Oktober 2018 in Dortmund, bei der wir ein Transparent mit der Aufschrift „Gegen jeden Polizeistaat – egal ob demokratisch oder sozialistisch“ zeigten. Euer Kommentar dazu: „Wie entlarvend: Damit glorifizieren sie die Diktatur der Monopole in Deutschland als ‘Demokratie’, die man vor einem ominösen, klassenneutralen Polizeistaat schützen müsse.“ Aha. Wie war das nochmal mit dem Verhältnis von Monopolkapitalismus und Demokratie? Schlagen wir bei Lenin nach, dessen Worte ja auch bei euch etwas gelten dürften. In „Staat und Revolution“ schreibt er: „In der kapitalistischen Gesellschaft, ihre günstigste Entwicklung vorausgesetzt, haben wir in der demokratischen Republik einen mehr oder weniger vollständigen Demokratismus.“ Hört, hört! Glorifiziert der Führer der Bolschewiki hier etwa die Herrschaft des Kapitals und verleiht ihr einen demokratischen Heiligenschein? Mitnichten, denn das Zitat geht folgendermaßen weiter: „Dieser Demokratismus ist jedoch durch den engen Rahmen der kapitalistischen Ausbeutung stets eingeengt und bleibt daher im Grunde genommen stets ein Demokratismus für die Minderheit, nur für die besitzenden Klassen, nur für die Reichen. Die Freiheit der kapitalistischen Gesellschaft bleibt immer ungefähr die gleiche, die sie in den antiken griechischen Republiken war: Freiheit für die Sklavenhalter.“ Für Lenin ist es also keineswegs ein Widerspruch, die Herrschaft des Kapitals als diktatorisch UND demokratisch zu bezeichnen, oder genauer: die bürgerliche Demokratie als politische Erscheinungsform der Herrschaft der besitzenden Klasse. Als Anarchist*innen sind wir mit Lenin in den meisten Punkten uneins, aber wo er Recht hat, hat er Recht. Auch wir meinten es keineswegs als Lob, als wir die Diktatur von Siemens, Daimler und Konsorten als „demokratisch“ bezeichneten. Keine Ahnung, wo ihr diesen Unsinn her habt – von eurem Klassiker jedenfalls nicht.

Weiter behauptet ihr, wir wollten die Demokratie „vor einem ominösen, klassenneutralen Polizeistaat schützen“. Das ist wieder ungefähr das Gegenteil unserer Gedanken. Eben weil es in der bürgerlichen Demokratie keine „Volkssouveränität“ gibt, sondern die arbeitenden Massen ausgebeutet und unterdrückt werden, braucht die Bourgeoisie immer auch den unmittelbaren Zwang der Polizei, um ihre Herrschaft abzusichern. Der Polizeistaat ist also weder klassenneutral, noch wollen wir die Monopolkonzerne vor ihm schützen. Deshalb hieß es in unserem Redebeitrag auf der Demo gegen das Polizeigesetz unter anderem auch: „Die Polizei ist dabei nur der lange Arm des Kapitals und setzt dessen Interessen durch.“ Manchmal lohnt es sich, besser zuzuhören.

Wie aber verhält es sich mit dem „sozialistischen Polizeistaat“ bzw. der „Diktatur des Proletariats“? Letztere sei, schreibt ihr, „die breiteste Demokratie für die Massen, bei Niederhaltung der alten Ausbeuter“. Wenn es tatsächlich nur darum ginge, unmittelbar nach einer sozialen Revolution die ehemals unterdrückende Klasse von konterrevolutionären Aktivitäten abzuhalten, wir hätten wenig einzuwenden. Auch die spanischen Anarchist*innen haben in den 1930er Jahren ihre Revolution bekanntlich militant gegen den Francofaschismus und andere reaktionäre Kräfte verteidigt. Aber Begriffe unterliegen einer Geschichte, die nicht ausgeblendet werden darf. Jeder weiß, dass in Sowjetrussland unter der Losung der „Diktatur des Proletariats“ in Wirklichkeit eine Diktatur der kommunistischen Partei ÜBER das Proletariat und den Rest des Volkes errichtet wurde. Und die Partei brauchte selbstverständlich polizeistaatlichen Maßnahmen, um ihre Herrschaft abzusichern. Die Unterdrückung der sozialrevolutionären, menschewistischen und anarchistischen Organisationen, die Verhaftung ihrer Mitglieder, die militärische Auslöschung der revolutionären Kronstädter Matrosen und der anarchistischen Machnow-Bewegung in der Ukraine, die Bespitzelung der Bevölkerung durch die Geheimpolizei, die rigide Kontrolle der öffentlichen Meinung und schließlich die Liquidierung beinahe der gesamten „alten Garde“ der bolschewistischen Partei in Stalins „Großen Säuberungen“ – waren das alles Maßnahmen zur „Niederhaltung der alten Ausbeuter“? Nur um den Preis völliger Realitätsverleugnung könntet ihr behaupten, dass die Sowjetunion kein Polizeistaat gewesen sei! Allenfalls könntet ihr versuchen, einzelne oder auch die Gesamtheit der aufgezählten Maßnahmen als notwendig zu rechtfertigen, also argumentieren, dass der Sowjetstaat unter Lenin und Stalin, auf den ihr euch ja positiv bezieht, ein „vernünftiger Polizeistaat“ war. Wir halten das für falsch und sind überzeugt, dass auf diesem Wege niemals eine freie Gesellschaft herbeigeführt werden kann. Darauf wollten wir mit unserem Transparent hinweisen.

Ihr erwähnt unsere kleine Intervention, als eines von mehreren Beispielen, unter der Überschrift „Warnung! Wie Spalter gegen den sich formierenden Kampf gegen die Rechtsentwicklung der Regierung und den antifaschistischen Kampf arbeiten.“ Wir würden also spalten und dem Widerstand gegen das Polizeigesetz schaden. In Wahrheit ist die Bewegung gegen das Polizeigesetz ohnehin ein buntes Sammelsurium unterschiedlicher Kräfte, deren Ziele sich gegenseitig ausschließen: Grüne und Sozialdemokrat*innen wollen einen etwas liberaleren bürgerlichen Polizeistaat, ihr wollt einen sozialistischen Polizeistaat, wir wollen gar keinen Staat, die Fußballfans wollen im Stadion und auf der Straße vom Staat in Ruhe gelassen werden. Die Bewegung war von Anfang an gespalten und wenn aus ihr irgend etwas Ernsthaftes werden soll, so müssen diese Gegensätze dringend öffentlich diskutiert werden. Das muss eine solche Bewegung nicht schwächen, sondern könnte im Gegenteil dazu beitragen, dass sie sich qualitativ weiter entwickelt und eventuell zu einer relevanten Infragestellung der bestehenden Verhältnisse zu wird. Eine Einheitsfront, die die Widersprüche unter den Tisch kehrt, ist dagegen der Tod jeder lebendigen Bewegung, sei es nun die gegen das Polizeigesetz oder zu einem anderen Thema. Wir haben eher den Eindruck, ihr werft uns Spalterei und Zersetzung vor, weil ihr von Kritik an eurer Organisation und der unseligen Tradition ablenken wollt, in die ihr euch stellt.

Aber ihr belasst es nicht dabei, uns als einzelne verwirrte Seelen zu denunzieren, die den gemeinsamen Kampf gegen rechts sabotieren. Nein, wir seien Teil einer größeren Verschwörung, die eine „schlagartige Kampagne“ „mit dem Hauptstoß gegen die MLPD“ führe. Dahinter stecke die Bewegung der „Antideutschen“, die „keine einheitliche Organisation“ besitze, ihre „Ideologen, Publizisten und Träger“ in die verschiedensten Organisationen eingeschleust habe und „trotz dieser Streuung erstaunlich koordiniert“ zuschlage. Das gehe natürlich nur, da sich ihre Agent*innen „einer starken Macht im Rücken sicher“ seien. Über „ihre wirklichen Inhalte, ihre Methoden, ihre Hintermänner“ sei zwar „noch viel zu wenig bekannt“. Ihr seid euch aber jetzt schon sicher, dass „ideologisch, organisatorisch und strukturell … verschiedene Verbindungen der ‘Antideutschen’ zu deutschen Geheimdiensten“ bestehen. Und so sei es die Aufgabe dieser Dunkelmänner, „Argumentationslinien, die die Geheimdienste gegen die MLPD erfunden haben, hinein in die linke Bewegung“ zu tragen. Der deutsche Geheimdienst habe wiederum „engste Verbindungen“ „mit dem israelischen Geheimdienst, der eine umfassende Propaganda-Maschinerie mit steuert“ und „ein Netzwerk von Journalisten finanziert“, in dessen „Dunstkreis […] sich die Antideutschen“ bewegen.

Um zu beweisen, dass wir mit diesen finsteren Mächten im Bunde stehen, behauptet ihr selbstverständlich auch, dass die Anarchistische Gruppe Dortmund „antideutsch beeinflusst“ sei – wie könnte es auch anders sein? Wie es sich für Agent*innen des Bösen gehört, „schlich“ sich unsere Gruppe nach euer Darstellung hinterhältig „in die Aktionseinheit ein“, anstatt ganz profan vom Vorbereitungsbündnis per Email eingeladen zu werden, wie es in Wirklichkeit war.

Das ist natürlich grotesker Unsinn. Es mag ja sein, dass es in letzter Zeit zu einigen Anfeindungen gegen eure Organisation kam. Und sicherlich spielten dabei teilweise auch Ideen der „Antideutschen“ eine Rolle, die sich tatsächlich in verschiedenen Milieus der Linken verbreitet haben. Abenteuerlich ist jedoch der verschwörerische Zusammenhang und die generalstabsmäßige Planung, die ihr diesen Ereignissen andichtet. Könnte es nicht einfach sein, dass verschiedene Leute auch unabhängig voneinander und aufgrund eigener Überlegungen beschlossen, keinen Bock auf euch zu haben, seien ihre Gründe nun im Einzelfall berechtigt oder nicht? Oder ist es in eurer autoritären Vorstellungswelt undenkbar, dass Menschen auf eigene Initiative handeln, ohne irgendwelche geheimen Einflüsterungen? Glaubt ihr im Ernst, der israelische Geheimdienst habe nicht dringlichere Probleme, als eine ganze Armada von Handlanger*innen in Gang zu setzen und vom „BAK Shalom“ in der Linkspartei über die Grüne Jugend bis hin zu den Dortmunder Anarchist*innen die unterschiedlichsten Leute zu manipulieren, und das alles mit dem einzigen Ziel, eure dann doch eher unbedeutende Organisation kaputt zu machen, die sich einbildet, das „Rückgrat der Bewegung“ gegen die Rechtsentwicklung in Deutschland zu sein? Was für eine manische Selbstüberschätzung!

Und noch etwas: Ihr legt ja immer großen Wert darauf, keine Antisemit*innen zu sein und wir nehmen euch, ungeachtet aller Kritik, immer gegen diesen Vorwurf in Schutz. Aber einmal ehrlich: Wenn irgendwer eine Karikatur einer antisemitischen Verschwörungstheorie schreiben wollte, er könnte keine bessere Story erfinden als euer internationales Geheimdienstkomplott gegen die MLPD. Denkt mal bei Gelegenheit darüber nach.

Hochachtungsvoll

Eure Anarchistische Gruppe Dortmund

PS: Wir haben diesen Brief auf unserer Homepage (agdo.blogsport.eu/) veröffentlicht und auch einen Link zu eurer Broschüre beigefügt. Es wäre sachdienlich, wenn ihr auf eurer Internetseite ebenfalls auf unsere Kritik hinweisen könntet, damit sich die interessierte Öffentlichkeit ein objektives Bild von unserem kleinen Streit machen kann.

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