Ökos und Anarchist*innen
Übersetzung aus: Le monde libertaire N° 1796, Juni 2018
Anmerkung der Übersetzung (ben-bon@riseup.net): Gerade im Hinblick auf die stattfindende Klimakatastrophe finde ich die theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Themenfeld Mensch – Natur – Herrschaft im deutschsprachigen Raum erschreckend inexistent. Das im Interview angesprochene Buch beschreibt dabei verschiedenste Menschen (Reclus, Landauer, Mumford, Ellul, Illich, Huxley) die, auf die eine oder andere Weise, Ökologie und libertäre Positionen verbinden. Im Bezug auf die aktuelle gesellschaftliche Relevanz vermisse ich doch ein paar mehr anarchistische Positionen zu diesem Thema. Diese Übersetzung versucht dazu einen kleinen Beitrag zu leisten. Gerne freue ich mich über Hinweise zu guten Texten. Der beste mir bisher bekannte Text stammt aus dem Jahr 1987! Das Kapitel „Ökologie und Anarchismus“ in Weniger Staat – Mehr Gesellschaft von Rolf Cantzen, lesenswert gerade auch im Hinblick auf Rojava.
ML: José, in deinem letzten ins Französische übersetzten Buch La liberté dans un monde fragile (Die Freiheit in einer fragilen Welt, erschienen bei L’echappée 2018) wirfst du einen Blick auf die libertären Ideen verschiedener Autoren mit Bezug auf die ökologischen Probleme von gestern und heute. Deine Frage ist, wie wir uns eine freie Gesellschaft von autonomen Individuen in einer Welt mit begrenzten Ressourcen erarbeiten können. Ist das ein Hindernis oder eventuell eine Chance? Du distanzierst dich von der Idee einer Überflussgesellschaft und einem gewissen Glauben an den technischen Fortschritt, der bei anarchistischen Theoretiker*innen beliebt ist. So legst du den Schwerpunkt auf Aspekte im revolutionären Milieu, die deiner Meinung nach zu oft ausgelassen oder verkürzt diskutiert werden. Dennoch ist die Suche nach Ästhetik, das Interesse an der Poesie, der Literatur und dem Handwerk und die Verbindung mit der natürlichen Umwelt bei einigen Autor*innen zu finden.
José: Das stimmt, und um deine Äußerungen zu vervollständigen, würde ich dazu sagen, dass eine echte Freiheit, egal ob persönlich oder politisch, sich nur im Rahmen dieser Begrenzungen verstehen lässt. Freiheit existiert nicht in der Welt der Allmacht oder Unsterblichkeit. Der fortschrittsgläubige Traum enthält eine absurde Idee, dass wir uns als eine Art von Göttern verstehen (wir sollten nicht vergessen, dass eine der ersten futuristischen Dystopien – die von Wells – Men like gods hieß). Innerhalb der anarchistischen Bewegung gab es einige in einem gewissen Sinn fortschrittsgläubige Strömungen, andere waren zurückhaltender und weniger verblendet. In meinem Buch erforsche ich vornehmlich letztere.
ML: Wie erklärst du das Fehlen anarchistischer Frauen in diesen Bezügen? Ich denke zum Beispiel an Emma Goldman, die die Zeitschrift „Mother Earth” leitete und gesagt hat „Wenn ich nicht tanzen kann, will ich eure Revolution nicht.”?
José: Es ist wahr, dass wir bei Goldman zahlreiche nützliche Bestandteile für eine heutige Reflexion finden. Dennoch hat Goldman den Aspekt der Ökologie nicht vertieft. Zufällig bringe ich bald einen Artikel über den Dialog zwischen Goldman und Aldous Huxley bezüglich Ökologie und Revolution heraus.
Außerdem hat Simone Weil ein aufschlussreiches Essay über das Problem der Freiheit und der Notwendigkeit aus einer libertären Perspektive geschrieben (Über die Ursachen von Freiheit und gesellschaftlicher Unterdrückung, Simone Weil).
Ich behaupte nicht, dass das Buch allumfassend ist – Simone Weil taucht dort nur sehr kurz auf. Ich möchte daran erinnern, dass das erste Buch, welches ökologischen Alarm geschlagen hat – Der stille Frühling von Carson – von einer Frau geschrieben wurde. Ich denke jedenfalls nicht, dass ich das Fehlen von Referenzen von Frauen erklären kann, ohne in Klischees zu verfallen.
ML: Dein Buch beginnt mit der Frage nach den „Bevölkerungswissenschaften” oder dem „Pronatalismus” (beliebt bei Religiösen und Patrioten), sprich die von Malthus (aus einer reaktionären Perspektive) initiierte Debatte, über die mögliche Anzahl von Menschen auf diesem Planeten im Hinblick auf die verfügbaren Ressourcen. Malthus wurde von Beginn an von Godwin und später durch Kropotkin widersprochen. Um 1900 gab es etwas mehr als 1,5 Milliarden Menschen auf der Erde, heute haben wir die Grenzen von 7,5 Milliarden überschritten und diese Zahl vergrößert sich ständig. Immer mehr Menschen leben im städtischen Raum. Trotzdem scheint diese Frage bei den Revolutionär*innen und den Gruppen der Wachstumskritiker*innen1 immer noch tabu zu sein. Beschäftigen sich anarchistische Strömungen verschiedener Länder mit der Problematik? Welchen Platz lassen wir anderen Bewohner*innen auf der Erde (Tieren und Pflanzen), den unberührten Gegenden?
José: Das sind tatsächlich große Fragen! Ich denke allerdings, dass eine überbevölkerte Welt – selbst durch eine ganz und gar maßvolle und tugendhafte Bevölkerung – erstickend wäre. Der Ökologe Daly spricht in Bezug auf die Gegenwart von einer „vollen Welt”, ein Konzept, das Anklang gefunden hat, welches ich jedoch banal finde. Ich denke einfach, dass eine Welt, wo keine wilden und unbewohnten Flecken zu finden wären, eine Welt ohne Geheimnisse, ohne Schönheit und ohne Abenteuer wäre…
Die neo-malthusianische Besorgnis ist am ehesten bei den Anarcho-Primitivist*innen vertreten.
ML: In deinem Buch haben wir eine zweifache Sicht auf die libertären Milieus in Verbindung mit den ökologischen Grenzen des Planeten: Diskussionen aus Spanien und Frankreich. Welche Punkte der Übereinstimmung oder Unterschiede siehst du heutzutage? Ebenso sprichst du die Bedeutung und Schwächen der zwei radikal-ökologischen Strömungen in den USA an: die soziale Ökologie und die Tiefenökologie. Sind diese Debatten auch in Europa präsent?
José: Um auf die erste Frage zu antworten, denke ich, dass es Übereinstimmungen gibt, die aber nicht ausreichend sind. Auf der einen Seite gibt es einen großen Teil des Anarchismus, der unmerklich in einen einfachen Antikapitalismus oder Antifaschismus abgleitet und andererseits die Umweltbewegungen, gefangen in einem staatlichen Reformismus oder in einer Suche nach privatem Wohlbefinden. Außerdem ist auf beiden Seiten eine Abwesenheit konsequenter Technologiekritik festzustellen.
Was die Debatte zwischen sozialer Ökologie und der Tiefenökologie betrifft, ist sie in Europa wenig präsent außerhalb von Randgruppen, wie die der Primitivist*innen zu Beginn dieses Jahrhunderts (Erb*innen von Zerzan und Kacinsky). Ich kenne zum Beispiel weder Zeitschriften noch Gruppen in Frankreich.
ML: Die materielle Industrialisierung, angeblich „losgelöst” von der Welt, erschafft eine Technologie, die die Individuen und die Bevölkerung einrahmt und die sogar die sozialen Beziehungen bestimmt. Technologie zugunsten des Staates (Kontrolleur!) und der Multinationalen, die daraus Profit ziehen. Wir können sehen, dass sich unter den anarchistischen Kritiker*innen verschiedene Praktiken in den Vordergrund drängen, um der technologischen Totalität etwas entgegenzusetzen; eine Wiederkehr des Handwerks, hin zu den einfachsten Bedürfnissen, die Beteiligung in Kooperativen, die Gründung von Orten mit größter Autonomie und möglichst außerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Was denkst du über die Möglichkeit dieser Enklaven? Und können sie gesellschaftliche Veränderungen anstoßen? In der ZAD von Notre-Dame-de-Landes sehen wir, dass der Staat sich weigert, Land ohne Besitzurkunde, ohne Besitzer*in und in kollektiver Verwaltung bewirtschaftet anzuerkennen…
José: Ich antworte mit Ja – unter der Voraussetzung, dass sich diese Erfahrungen erfolgreich verbinden lassen, durch die Mittel einer gemeinsamen Sprache und Bestrebung über alle Grenzen hinweg. Jedoch gibt es heutzutage eine enorme Zersplitterung, die das verhindert.
ML: Außerdem, wegen des aktuellen Verlustes von bestäubenden Insekten und Vögeln, können wir uns fragen, ob eine autonome Landwirtschaft, ob individuell oder kollektiv, am Rande der Marktgesellschaft mittelfristig noch möglich sein wird. Es ist bereits ein Bestäubungsroboter entwickelt worden! Und diese Roboter müssten gekauft werden, um von den Früchte des eigenen Gartens zu leben…
Kann das Eröffnen alternativer Orte, die ein einfaches Leben praktizieren, die Dinge letztlich fundamental verändern, während das System sich entweder daran anpassen oder sich unentbehrlich für deren Lebensfähigkeit machen kann?
José: Das ist noch immer eine schwierige Frage! Vielleicht dienen diese alternativen Wege nur dazu, würdig zu leben und politische Perspektiven außerhalb großer Massenstrategien beizubehalten. Heutzutage ist es aber schon etwas! Es gilt zu bedenken, dass wenn wir uns einmal entschieden haben keinen kollektiven Selbstmord zu begehen, wir die Verantwortung von der Art und Weise, wie wir leben, tragen werden müssen.
Dieser Verantwortung kann nicht entgangen werden – ausgenommen man verfällt der Unaufrichtigkeit oder der Illusion. In diesem Sinn zu leben, heißt Übereinstimmungen mit unserem Ideal zu suchen, was zwangsläufig bedeutet Zugeständnisse zu machen. Und es braucht gar nicht so dramatisch hingenommen werden. Es gibt immer noch Dinge, für die es sich zu kämpfen lohnt. Es ist wahr, die Umweltbedingungen, in welchen wir leben, könnten derart extrem werden, dass alle Optionen unmöglich werden. Aber an diesem Punkt sind wir noch nicht. In Wahrheit ist niemals der Moment sich zu entmutigen, weil nochmals, nachdem der [kollektive, A.d.Ü.] Selbstmord verworfen ist, die Hoffnungslosigkeit nicht mehr ist als ein Alibi, um die Anpassung zu rechtfertigen. Alles, was wir uns gewissenhaft aufbauen, wird eine Bedeutung für uns und die nächsten Generationen haben. Eine Ideengemeinschaft zu bilden ist ein guter Anfang. Und wenn wir uns außerdem verstärkt um praktische Dinge zusammentun, ist das noch besser. Ich habe zuvor eine Anspielung auf eine gewisse Zersplitterung gemacht… Das Problem dabei ist folgendes: Wenn sich eine Gemeinschaft von transformatorischen Ideen und Aktionen in heutiger Zeit nicht entwickeln kann, liegt das hauptsächlich daran, dass der Großteil der Menschen, die sich als kritisch verstehen, etwas vergessen hat, das mir wesentlich erscheint: Unsere Freiheit muss sich an den Grenzen dessen messen, was Mumford die materielle Kultur nannte.
ML: Im heutigen Frankreich sehen wir, dass die Produktions– und Konsumauswahl mehr diskutiert wird, wie z.B. hinsichtlich der landwirtschaftlichen Lebensmittel, vor allem von Organisationen wie dem Bauernverband oder den Bioverbänden…
Die Arbeiter*innengewerkschaften scheinen vorrangig auf die Verteidigung der Arbeitsplätze, die soziale Absicherung und eine Erhöhung der Löhne konzentriert und stellen nicht in Frage, was produziert wird. Dennoch konnten wir sehen, dass zum Beispiel die CGT Vinci für die ZAD Notre-Dame-de-Landes Partei ergriffen hat und die Schaffung von Gütern, die sozial nützlich sind und derer die Produzent*innen stolz sein können, fordert. Von diesem offensichtlich seltenen Fall ausgehend, spricht das nicht trotzdem für ein Engagement in der Gewerkschaftsbewegung und der Forderung einer Wiederaneignung der Produktionsmittel, der Verteilung und ihrer Umwandlung? Finden derartige Debatten in der spanischen Gewerkschaftsbewegung oder in einer ihrer Fraktionen statt?
José: Ich wüsste nicht, dass es einen Platz für Reflexion in der spanischen Gewerkschaftsbewegung gibt, außer für Populismus. Ich habe von den Bemühungen in Frankreich gehört… Ich muss zugeben, dass ich ziemlich pessimistisch dem gegenüberstehe, was in diese Richtung gehen könnte…
In 150 Jahren werden die Gewerkschaften sich vielleicht dem Problem bewusst sein, aber wird es in 150 Jahren noch mehr oder weniger intelligente Lebensformen auf diesem Planeten geben?