Kapitalistische Lebenswelten
Von: Ralf Burnicki (FAU Bielefeld), Rede am 1. Mai 2019 auf dem Rathausplatz in Bünde (Herford)
Was hat der Erste Mai, der Tag der Arbeit und der Arbeitskämpfe, mit der Geschichte der menschlichen Zivilisation zu tun? Ich denke, der Erste Mai sollte uns angesichts dieser langen Entwicklung der Menschheitsgeschichte deutlich vor Augen führen, wo wir als Mitglieder einer kapitalistischen Arbeitsgesellschaft stehen.
Für den Philosophen Aristoteles, der 384 bis 322 v. Chr. lebte, war Arbeit ein Übel, das genaue Gegenteil von Muße und Selbstbestimmung. Wahrhaft freie Menschen sollten ihm zufolge gar nicht arbeiten, sondern sich den geistigen und kreativen Dingen zuwenden. Unfreie Menschen arbeiteten, für freie Menschen war der Begriff der „Tätigkeit“ reserviert. Aristoteles‘ politische Philosophie unterteilt die Gesellschaft in denkend Planende und Ausführende, wobei die Planenden zur Herrschaft auserkoren seien, – so, als könnten die Ausführenden weder denken noch planen. Die Ausführenden benötigten laut Aristoteles deshalb der Herrschaft¹, und diese Elite würde durch die Arbeitenden (Bäuer*innen, Handwerker*innen und Sklav*innen) mitversorgt. Aristoteles Sichtweise unterteilt Menschen letztlich in nutznießerische Herrschende und Benutzte, die ihr Leben mit Arbeit verbringen, um der Elite Gutes zu tun: eine klassische Form sozialer Ungleichheit.
Seit Aristoteles sind über 2300 Jahre vergangen, und wo stehen wir heute? Noch immer scheinen wir als Lohnabhängige genötigt, zwischen 35 und 40 Stunden pro Woche dafür zu arbeiten, dass wir den Lebensunterhalt sichern. 2300 Jahre Menschheitsentwicklung und Ökonomiegeschichte, Technisierung und Entwicklung der Produktivkraft haben nicht dazu geführt, dass die Arbeitenden zur Muße gefunden haben. Ein Großteil der Bevölkerung verbringt ihr Leben in der Arbeitswelt, in Fabriken, Büros und Dienstleistungsgewerben, als wäre die Idee der Arbeit ein Naturgesetz. Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr bildet die Arbeit den Mittelpunkt des Daseins, und den Profit tragen Unternehmer*innen, Konzerne und Aktiengesellschaften davon. Käme der Erlös ihrer Arbeitskraft den Menschen voll zugute, müssten sie weit weniger arbeiten als jetzt und hätten auch mehr davon, hätten die Chance auf Muße und freie Kreativität.
Doch nach wie vor scheinen wir als Lohnabhängige von ideologischen Einflüssen geprägt, die uns vormachen, wir bräuchten ein „Oben“, etwas, das uns dirigiert, und so halten wir dieses „Oben“ mit unserer Arbeitszeit am Leben, als seien wir unfähig zur Selbstorganisation. Wir, aufgewachsen in modernen Zeiten, erleben vollautomatisierte Produktionsabläufe und die enormen technischen Möglichkeiten, die ausreichen, alle mit allem Nötigen zu versorgen. Und dennoch überlassen wir die Versorgung der Bevölkerung und die Hoffnung aufs Allgemeinwohl den egoistischen Interessen und der Profitmaximierung von Unternehmer*innen, Investor*innen und Konzernen².
Es kann angesichts mehrtausendjähriger Entwicklungsgeschichte der Gesellschaften nicht wahr sein und nicht angehen, dass Menschen noch immer den Hauptteil ihres Lebens mit Arbeit verbringen sollen – und als Entschädigung dafür dann so sinnvolle Produkte kaufen dürfen wie T-Shirts mit Markennamen großer Sportartikelhersteller, Schönheitscremes oder Uhren, die dazu verhelfen, pünktlich am Arbeitsplatz zu sein³.
Was aber ist die Alternative? Im Gegensatz zu Aristoteles, der den Ausführenden (in heutiger Sprache: den Lohnabhängigen) das Denkvermögen absprach, können wir denken und konnten es schon immer, denn Denken ist Teil des Menschseins. Denken wir also, denken wir kritisch, und denken wir über alternative Konzepte zum Kapitalismus nach, bei denen es nicht um Profit für wenige, sondern um das Wohl für alle geht. Gründen wir Organisationen ohne Hierarchien und schaffen wir Selbstverwaltung in allen Belangen, bei der die Betroffenen die Entscheidungen fällen auf der Grundlage sozialer Gleichheit, freier Kooperation und Solidarität mit anderen – in der Ökonomie, in der Bildung, in der Politik. Lassen wir uns das Leben nicht länger nehmen. Beginnen wir eine herrschaftsfreie Welt, von unten für unten und im Hier und Jetzt.
Anmerkungen:
¹ Aristoteles, Politik. Schriften zur Staatstheorie, 1252a, Stuttgart 2007, S.76
² Egoismus und Allgemeinwohl aber schließen sich aus, es sei denn man glaubt an unsichtbar wirkende magische Kräfte. So ist es keine überraschende Erfahrung, dass in Konzernen ein Mehr an Profit zu Entlassungen führen kann, weil dies den Interessen der Kapitalist*innen dient.
³ und die dann womöglich aus noch schlimmeren Arbeitsverhältnissen stammen in anderen Teilen der Welt (wo der hiesige Kapitalismus seinen Anteil hat)