KAF: Solidarität mit den Menschen in Rojava
Das Kurdischsprachige Anarchistische Forum (KAF) hat einen Aufruf zur „Solidarität mit den Menschen in Rojava – Gegen den türkischen Staat und die US-Alliierten“ veröffentlicht, den wir in deutscher Übersetzung weiterleiten:
Es besteht kein Zweifel daran, dass sich die Geschichte wiederholt,
wenn man die historischen Erfahrungen ignoriert und was derzeit in
Rojava
stattfindet, belegt diese Aussage. Im irakischen Südkurdistan (Başûr)
hatte die kurdisch-nationalistische Bewegung von 1961 bis 1975 einen
Krieg für die Unabhängigkeit der Kurd*innen gegen die Regierung des Irak
geführt und dabei Hilfe und Unterstützung von den USA Staaten und deren
Verbündeten bekommen.
Diese Bewegung brach innerhalb von 24 Stunden zusammen als am 06.03.1975 die Unterstützung durch Mohammad Reza Pahlavi beendet wurde, dem damaligen Staatschef des Iran. Dieser Zusammenbruch wurde verursacht durch das Abkommen [von Algier] zwischen den Regimes in Irak [Hussein] und Iran [Shah]. Die kurdische Bewegung im Nordirak stand mit ihrer bitteren Erfahrung mit den USA während ihres Kampfes nicht alleine da. Tatsächlich ist es so, dass auch andere Bewegungen, die von den USA unterstützt wurden, das gleiche Schicksal teilen mussten.
Nach all diesen Erfahrungen in der Region war dann 2015 eine weitere
politische Partei, die „Partei der Demokratischen Union“ (PYD), in die
US-Falle getreten. Die [dem kurdischen Anführer Öcalan folgende] PYD
wurde der Hauptverbündete der Vereinigten Staaten im Kampf gegen die
Terrorgruppe ISIS [“Islamischer Staat“]. Dabei wurden tausende Männer
und Frauen ihres militärischen Arms „Demokratische Kräfte Syriens“ (SDF)
geopfert, die zu den besten Kämpfer*innen der Welt gehören und denen
sich auch viele Ausländer*innen angeschlossen hatten. Von Anfang an
stand für uns fest, dass nach [der Befreiung von] Kobane jede
Kampfhandlung außerhalb von Selbstverteidigung nicht den kurdischen
Interessen in Rojava [syrisches Westkurdistan] dient, sondern den
Interessen der USA und Europas.
Die PYD in ihrer Allianz mit den Vereinigten Staaten war für die
Nachbarstaaten Türkei und Syrien ein weiterer Störfaktor und Auslöser
von Aggressionen. Das zeigte zum Beispiel der Einmarsch der Türkei in
[die nordwest-syrische Provinz] Afrin im Januar 2018 – und jetzt in
Rojava.
Nun ist es höchst offensichtlich, dass die USA die kurdische Bewegung im
Irak ebenso für ihre politischen, wirtschaftlichen und militärischen
Interessen benutzt haben, wie auch in Rojava. Mit anderen Worten: So,
wie die USA die Kurd*innen 1975 im Irak im Stich gelassen hatten, indem
sie einen Pakt zwischen Irak und Iran auf deren Kosten zugelassen haben,
so handeln die Vereinigten Staaten nun erneut in Rojava. Der einzige
Unterschied ist nur, dass es diesmal schlimmer als 1975 werden könnte,
denn alle wissen, mit welcher Brutalität der [türkische] Einmarsch
zahlreiche Tote und Zerstörung verursachen wird.
Wir Anarchist*innen, egal wo wir leben und welche Sprache wir
sprechen, stehen in Solidarität mit den Ausgebeuteten, wer auch immer
sie sind,
und mit jenen, die unter den schrecklichen Umständen des Krieges leben
müssen. Wir sehen es als unsere Pflicht an, die zivilen und
freiheitlichen Stimmen zu unterstützen und uns mit ihnen solidarisch zu
zeigen – aber nicht mit politischen Parteien, Regierungen und Staaten.
Wir sind immer davon ausgegangen, dass die Machtübernahme der PYD in
Rojava für die Menschen dort eine Katastrophe bringen wird. Wir waren
stets überzeugt, dass die PYD, wie jede andere politische Partei,
versuchen wird sich mit mächtigen Kräften zu verbünden, um ihre Politik
umzusetzen.
Wir mussten mitansehen, wie [in der nordirakischen Autonomen Region
Kurdistan] die PYD in Dohuk einen Kompromiss mit der „Demokratischen
Partei Kurdistans“ (PKD) und den syrischen Oppositionsparteien des
„Kurdischen Nationalrats“ (ENKS) eingegangen ist. Dabei wurde dem ENKS
von der PYD 40 Sitze [im „Hohen Kurdischen Komitee“, DBK] eingeräumt, ohne jedoch die Bevölkerung von Rojava zu befragen.
Auch wurden wir Zeug*innen, wie die PYD als autoritäre Macht aufgetreten ist und aus den Freiwilligenverbänden YPG/YPJ
[“Volksverteidigungseinheiten“] ihre eigene Armee gebildet hat. Sie
verhandelte mit [dem syrischen Diktator] Assad, wechselte ihren Kurs und
kontrollierte die Lage in Rojava. Und die PYD hat all das hinter dem
Rücken der Menschen in Rojava getan. Infolge dessen waren unsere
Genoss*innen nicht zurückhaltend mit ihrer Kritik an der PYD und der Lage vor Ort.
Den Menschen in Rojava wünschen wir nun, dass sie noch etwas
Positives unternehmen können und auch wenn es etwas spät dafür sein mag,
ist dies
vielleicht immernoch möglich. Die Versammlungen, Gruppen und Massenorganisationen in den Ortschaften und Dörfern könnten die
Verwaltung und Macht im Sinne einer sozialen Selbstbestimmung
voranbringen, sobald die Invasion [des türkischen Militärs] beendet oder
ein Waffenstillstand vereinbart wird.
Außerdem glauben wir, dass es für die Menschen in Rojava an der Zeit
ist, aus der Vergangenheit zu lernen und keiner politischen Partei mehr
zu vertrauen, sondern den Machtspielen der PYD und anderer Parteien zu
entkommen, bei denen die Bevölkerung immer die Hauptverliererin ist.
In diesem Moment erhebt sich Rojava gegen den Einmarsch des
neo-osmanischen Reiches. Als Revolutionär*innen ist es unsere Pflicht,
die bestmögliche Hilfe dabei zu leisten. Unsere Unterstützung für Rojava
ist nicht darin begründet, dass die Bevölkerung überwiegend kurdisch
ist, sondern weil wir uns gegen jede Art von Krieg aussprechen. Denn es
ist immer die Zivilbevölkerung, also die Armen, Verwundbaren, Frauen,
Alten und Kinder, die den Preis dafür zahlen muss.
Dieser Krieg wurde heute, am 09.10.2019, vom türkischen Staat und seinen Stellvertreter*-Armeen begonnen. Diese bestehen auch aus arabischen und türkischen Nationalist*innen, dem ENKS [“Kurdischen Nationalrat“] und möglicherweise auch aus der Kurdischen Regionalregierung (KRG) [der nordirakischen Autonomie-Region].
Der Krieg bringt Katastrophen hervor, die jedoch untrennbar verbunden
sind mit der Klassengesellschaft und dem Kapitalismus. Wir lehnen aber
jede Art von Macht, Herrschaft, Hierarchie und Klassendominanz ab, denn
diese sind die Ursachen für die Unterdrückung der Bevölkerungsmassen und
verhindern, dass die Menschen über sich selbst bestimmen.
Unsere Alternative ist eine soziale Selbstverwaltung der Kantone und
Kommunen, jenseits der Kontrolle durch politische Parteien, Staaten und
andere hierarchische Organisationen. Wir klagen Erdogan und seine
Alliierten an, in Rojava ein marschiert zu sein und wir machen sie dafür
verantwortlich, was dort passiert. Unsere Herzen und Gedanken sind mit den Menschen in Rojava.
Gegen Staat, politische Parteien, Krieg, Invasion und Terror!
Für Solidarität, Freiheit, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit und soziale Selbstverwaltung!
Kurdischsprachiges Anarchistisches Forum (KAF)
( 08.10.2019)
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Weitere Texte des KAF:
„Kurdistan: Gegen Staat und Krieg“ (2017)