Im Angesicht der Pandemie – über soziale Ungleichheit und Solidarität I
Eine Flut an Ereignissen
In den letzten Wochen und Tagen hat das Coronavirus das Leben, wie wir es bisher gekannt hatten, völlig verändert. Meldungen über Entwicklungen und Maßnahmen erreichen uns, die wir gestern noch für unmöglich gehalten hätten. Die größte Pandemie seit der Spanischen Grippe 1918 verbreitet sich auf der Welt, gegen die es bisher keinen wirksamen Impfstoff und Medikamente gibt. Als Reaktion darauf verabschieden Regierungen umfassende Verordnungen und Gesetzespakete wie Kontaktsperren oder Versammlungs- und Veranstaltungsverbote.
An Möglichkeiten zur Abfederung der ökonomischen Krise wird fiebrig gearbeitet.
Medial zeigt sich ein starker Staat, der die kollektive Erfahrung der Mitglieder der Gesellschaft hervorhebt und zur Verantwortungsübernahme mahnt. Unsicher bleibt bisher, ob die ergriffenen Maßnahmen die Ausbreitung der Krankheit eindämmen und welche Dynamiken weiter folgen werden. Sicherlich wird die Pandemie in den nächsten Wochen nicht vorübergehen, die Gesundheitskrise dauert an, ebenso wie der wirtschaftliche Shutdown.
Kapitalismus als Krise und die Zuspitzung gesellschaftlicher Ungleichheit
Im Angesicht des erklärten Ausnahmezustandes, mit all seinen Konsequenzen und Einschränkungen was demokratische Rechte und Freiheiten betrifft, wird sichtbar, was ansonsten verharmlost, gerechtfertigt, übersehen, totgeschwiegen und gleichzeitig akzeptiert, verfestigt und ausgeweitet wird:
- Dass im Kapitalismus nur Wert hat was zur Profitmaximierung beiträgt und dass die Grundlage hierfür die Ausbeutung von Mensch und Natur ist.
- Dass die Wirschtafts- und Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen der Gesundheit der Lohnabhängigen vorgezogen wird.
- Dass öffentliche und soziale Dienstleistungen, insbesondere das Gesundheitswesen durch eine neoliberale Agenda, über Jahre hinweg kaputtgespart und ausverkauft wurde.
- Dass in dieser Krise die Prekarität von Lohnabhängigen zunimmt.
- Dass die gesundheitliche, soziale und wirtschaftliche Krise nicht eine weitere Krise des Kapitalismus ist, sondern dieses kapitalistische System selbst eine Dauerkrise darstellt.
- Dass auf Krisensituationen mit Autorität und Zwang von Seiten des Staates reagiert wird.
- Dass soziale Ungleichheiten und Herrschaftsstrukturen neue Qualitäten von Ausgrenzung, Benachteiligung und Gewalt erreichen.
- Und schliesslich dass wir nicht alle auf derselben Stufe stehen und aus diesem Grund nicht alle dasselbe Ausmaß an Möglichkeiten, Anerkennung, Rechten, Aufmerksamkeit, Hilfe und Schutz bekommen.
Neue Qualitäten der Benachteiligung
Besonders heftig trifft die Corona-Pandemie mit all ihren Auswirkungen Menschen, die gesundheitlich bedingt Risikogruppen angehören und Menschen, die bereits gesellschaftlich benachteiligt werden. Treffen kann uns das Coronavirus alle. Ansonsten unterscheidet uns so einiges:
Während manche von uns vielleicht sogar darauf hoffen diese Krankheit schnell hinter sich zu bringen, wissen andere, dass sie sich noch für die nächsten Monate aus gesundheitlichen Gründen isolieren müssen oder im Ernstfall vielleicht gar nicht mehr auf der Intensivstation behandelt werden. Manche Menschen können sich in Homeoffice der Ansteckungsgefahr entziehen und bekommen ihr reguläres, volles Gehalt ausgezahlt. Andere bangen um ihre berufliche Existenz, davon viele Selbstständige und prekär Beschäftigte. Viele andere Lohnabhängige müssen wie gewohnt weiterarbeiten, unter teilweise miserablen hygienischen Bedingungen. Selbst wenn die Berufe nicht systemrelevant sind. Andere Menschen wiederum befinden sich in Kurzarbeit, werden gekündigt oder müssen unentlohnt daheim bleiben um ihre Kinder zu versorgen. Letzteres betrifft meistens Frauen*, ebenso das Folgende: Erhöhte Arbeitsbelastung durch die Summe von Lohnarbeit, der reproduktiven Arbeit daheim und der aktuell anfallenden Kinderbetreuung, da Schulen und Kitas geschlossen sind. Menschen in (aktuell) systemrelevanten Berufen, wie Pflege- und Betreuungskräfte, leisten ihre Arbeit in 10-12 Stunden Schichten ab und arbeiten selbst dann noch weiter, wenn sie sich selbst an Patient*innen und Adressat*innen angesteckt haben. Bis zum Umfallen, mit erhöhtem Gesundheitsrisiko und niedrigem Einkommen. Ein Zusammenbruch des Gesundheitswesens ist bei einer Zunahme schwererkrankter Patient*innen nicht auszuschließen. Dabei war insbesondere dieser Sektor schon lange weder personell noch qualitativ ausreichend ausgestattet und mutete den Beschäftigten in ihrem Berufsalltag einen Zustand permanenter Überarbeitung zu. Dies geschah trotz fortschreitender medizinischer Möglichkeiten. Die ungleiche Arbeitsverteilung und -belastung, sowie das erhöhte Risiko der Gesundheitsgefährdung von Frauen* durch deren überdurchschnittliche Präsenz in Berufen wie Pflege und Lebensmittelgroßhandel, sprechen Bände über ungleiche Geschlechterverhältnisse in unserer Gesellschaft.
Und daheim? Mal wieder zur Ruhe kommen und füreinander Zeit haben? Das wäre ein Lichtblick. Es kann aber auch heissen, dass die sowieso viel zu kleine Wohnung ihren Bewohner*innen die Luft zum Atmen nimmt. Weil sie arm sind, keine hohen Löhne bekommen und weil es für sie deshalb keine Auswahl an Wohnraum gibt.
Und wie sollen sich Menschen isolieren können, wenn sie sich mit 700 anderen Personen wenige Küchen und Bäder teilen und zu acht in zwei Zimmern leben müssen? Weil sie in Unterkünften für Geflüchtete leben müssen oder selbst auch keine Wohnung finden. Weil bei der Wohnungsvergabe neben der Zahlungsfähigkeit auch noch das Thema Rassismus eine Rolle spielt und weil Menschen ohne anerkannten Fluchtstatus nicht dieselben Rechte haben wie deutsche Staatsbürger*innen.
Wie sollen Menschen in Quarantäne bleiben, wenn sie gar keine Wohnung, kein Zimmer haben, in das sie sich zurückziehen können? Die Grundversorgung für obdachlose Menschen gestaltet sich zunehmend schwerer, geschlossen sind Anlaufstellen und Übernachtungsmöglichkeiten. Die Tafeln sind leer und auf den Straßen sind zu wenige Menschen, die etwas fürs alltägliche Durchkommen dazugeben könnten.
Daheim bleiben müssen kann außerdem heißen, dass Konflikte und Gewalt in den eigenen 4 Wänden zunehmen und eskalieren. Die Betroffenen von häuslicher Gewalt sind meistens Frauen* und Kinder. Und die Hilfestrukturen? Beratungsstellen und Frauenhäuser haben selbst oft keine Plätze mehr für Betroffene frei, weil sie schon viel zu lange zu wenige haben und sich daran nie etwas geändert hat. Auch das sind Zustände patriarchaler Strukturen.
Und was ist mit den Menschen, die ausgeschlossen werden? Geflüchtete, die an den Außengrenzen der EU und in Griechenland in riesigen, völlig überfüllten Lagern festgehalten werden? Ohne ausreichende funktionierende Infrastruktur oder medizinische Versorgung. Was, wenn das Virus dort ankommt und sich verbreitet? Sehen wir zu wie hunderte, tausende Menschen sterben, weil ihnen die Weiterreise in andere EU-Länder und Kommunen in Corona-Zeiten erst recht verweigert wird?
Zwischenfazit
All diese Benachteiligungen und Diskriminierungen, Ausbeutung und Gewalt sind keine neu auftretenden Phänomene, sondern sind historisch gewachsene, strukturell verankerte und daher permanente Bestandteile einer kapitalistischen, patriarchalen und rassistischen Gesellschaft. In Krisen spitzt sich soziale Ungleichheit zu, das Ergebnis sehen wir jetzt. Aus der Traum von einer wirklich gerechten, fortschrittlichen, zivilisierten, demokratischen Gesellschaft. Wir bekommen gerade einen Spiegel vorgehalten, in dem wir sehen, was wir alles verbockt haben. In diesem Punkt sind sich die Pandemie und die Klimakatastrophe ähnlich: Sie legen offen, was in der globalisierten Welt und ihrem Wirtschaftssystem schief läuft.
Hoffnung: Strukturen gegenseitiger Solidarität
Sichtbar wird in dieser Krise aber auch, dass sich viele Menschen trotz Social Distancing um das Wohl ihrer Mitmenschen sorgen und selbstorganisierte Unterstützung anbieten. An vielen Orten wachsen innerhalb kurzer Zeit Netzwerke solidarischer gegenseitiger Hilfe. Sie entstehen am Grund der Gesellschaft, in den Hausgemeinschaften und Nachbarschaften, in sozialen Netzwerken und politischen Initiativen. Angestoßen von Einzelpersonen und größeren Zusammenhängen reichen sie von Nachbarschaftshilfe beim Einkauf über Anleitungen zu selbstgemachten Mundschutzmasken, Aushängen mit Informationen zur Unterstützung von Betroffenen bei häuslicher Gewalt, Beratung zu Arbeitsrecht oder Webseiten zur kritischen Beobachtung der fortlaufenden politischen Maßnahmen.
Wir schließen uns der Schlussfolgerung von Aktivist*innen der plattform an: „Das Virus an sich ist eine Naturtatsache, [zu der allerdings maßgeblich die Ausbeutung der Natur und Umwelt durch den Menschen beigetragen hat]. Die Frage [aber], wie mit der Pandemie umgegangen wird, ist dagegen ein zutiefst gesellschaftliches Problem, das von den kapitalistischen Verhältnissen und ihren Widersprüchen abhängt. Wer wie unter der Krise leidet, wer am Ende die Zeche der Krisenmaßnahmen zu zahlen hat und wie sie eventuell die Gesellschaft dauerhaft verändern werden – all das hängt von Kräfteverhältnissen und Klassenauseinandersetzungen der unmittelbaren Zukunft ab.“
Kollektives Handeln – Gesellschaft prägen
Darum lasst uns trotz einer auf die Spitze getriebenen aktuellen Vereinzelung im Angesicht einer überwältigenden lebens- und existenzbedrohenden Krise solidarisch miteinander sein und Grundsteine für unsere zukünftige Gesellschaft legen. Das Neue erwächst aus dem Alten und es liegt an uns bereits im Hier und Jetzt Strukturen für eine Welt zu schaffen, die sich an den Bedürfnissen ihrer Mitglieder orientiert und ihren Reichtum allen Menschen zugängig macht. Solidarische Strukturen entstehen im Kleinen, bei jeder und jedem von uns. In unseren alltäglichen Handlungen und Beziehungen. Sie wachsen wenn wir uns zusammenschließen, vernetzen und organisieren und wenn wir gezielte Forderungen aufstellen und für sie kämpfen.
Lasst uns also weiterhin zunehmend, entgegen der bis auf die Spitze getriebenen aktuellen Vereinzelung, unsere Netzwerke ausweiten und tragfähige Unterstützungsstrukturen als Antwort auf die Gesundheitskrise und die „Normalisierung des Ausnahmezustandes“ schaffen.
Lasst uns kollektiv gegen unzumutbare Zustände angehen und gemeinsam für unsere Interessen einstehen. Sei es am Arbeitsplatz, in der eigenen Wohnung, oder im öffentlichen Raum, auf der Straße und im gesellschaftlichen Leben.
Lasst uns dabei solidarisch zu all denjenigen stehen, die in einem besonderen Ausmaß von den Auswirkungen dieser Gesundheits- und Wirtschaftskrise betroffen sind: Risikogruppen aufgrund gesundheitlicher Aspekte. Prekär beschäftigte Lohnabhängige. Obdachlose. Gefangene. Menschen die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Menschen die aktuell auf der Arbeit ihre Gesundheit gefährden (müssen). Menschen die neben der Lohnarbeit eine Rundumversorgung für ihre Kinder gewährleisten oder dafür unentgeldlichen Urlaub nehmen müssen. Menschen die in Kurzarbeit sind oder entlassen wurden. Menschen, die in beengten Räumen zusammen leben (müssen), wie Geflüchtete in Sammelunterkünften. All die Geflüchteten, die an den Außengrenzen der EU und/oder in völlig überfüllten Lagern festgehalten werden und dem Coronavirus ausgeliefert sind.
Und lasst uns auch dafür sorgen, dass die rechtlichen Bestandteile des Ausnahmezustands, nicht wie schon an vielen Stellen häufig geschehen, nach dessen Beendigung nicht in die dauerhafte Gesetzgebung übergehen.
Der Verfestigung von Autorität, Herrschaft und Gewalt setzen wir solidarische, kollektive Strukturen und Kämpfe entgegen. Vereinzelte scheinbar unauffällige Handlungen verbinden sich und lassen etwas großes Neues entstehen. Lasst uns Wege und Handlungsmöglichkeiten eröffnen um eine neue, emanzipatorische und solidarische Gesellschaft entstehen zu lassen.
Für den libertären Kommunismus!
Der Beitrag Im Angesicht der Pandemie – über soziale Ungleichheit und Solidarität I erschien zuerst auf Libertäres Bündnis Ludwigsburg (LB)².