Herzrhythmusstörungen of Europe: Pulse of Europe, Nationalismus und die Ignoranz globaler Scheiße
Seit ein paar Wochen nehme ich vermehrt den Begriff „Pulse of Europe“ in den Medien wahr. Ich dachte an irgendeine aerobic-ähnliche Gymnastikart, die der neue heiße Scheiß wäre, aber nein, beim Lesen einiger Berichte wurde mir schnell klar, dass es eine Bürger*inneninitiative ist, die sich für den Erhalt der Europäischen Union einsetzt und überall in Deutschland auf die Straßen geht. Da wollte ich genauer hinschauen, zumal die sich jetzt auch sonntäglich in meiner Heimatstadt treffen und mehrere 100 Menschen anziehen.
Gegründet wurde Pulse of Europe 2016 in Frankfurt am Main mit dem Ziel, die Europäische Union, ihre Werte und den von ihr geschaffenen Frieden zu retten und sich den erstarkenden nationalistischen und rechtspopulistischen Tendenzen in vielen EU-Ländern entgegenzustellen. Sooo doof hört sich das erstmal gar nicht an, denke ich. Da gibt es vielleicht Anknüpfungspunkte für Antifaschist*innen und vielleicht für mutige Anarchist*innen.
Doch das Lesen der zehn Grundthesen von Pulse of Europe brachte erstmal eine Ernüchterung.
These 1 „Europa darf nicht scheitern“
Wenn nicht alle, denen Europa wichtig ist oder die auch nur davon profitieren, aktiver werden und wählen gehen, droht die europäische Union in Kürze zu zerfallen. Die kommenden Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland sind von existenzieller Bedeutung. Für Europa geht es jetzt um alles!
Aber nicht allen geht es um Europa. Und das liegt daran, dass die EU kein Projekt der Bewohner*innen der EU-Länder ist, sondern eines des Kapitals und des bürgelichen Rechsstaates.
These 2 „Der Friede steht auf dem Spiel“
Die Europäische Union war und ist in erster Linie ein Bündnis zur Sicherung des Friedens. Wer in Frieden leben will, muss sich für Europa stark machen.
Eine steile Behauptung. Ich dachte immer, dass die EU eine hauptsächlich wirtschaftlich ausgerichtete Gemeinschaft von eutopäischen Industrienationen sei, die sich voll und ganz der kapitalistischen Logik unterwirft und seit dem Fall der Berliner Mauer und des eisernen Vorhangs erst so richtig an Fahrt aufgenommen hat. Kriege toben vielleicht nicht mehr im Inneren, die wurden nach außen verlegt, vor die Mauern der Festung Europa. Dort krepieren tausende von Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben. Und wer braucht schon Kriege in der Festung, wenn wir unsere Freiheit am Hindukusch verteidigen können?
These 3 Wir sind verantwortlich
Jede und jeder ist für das Scheitern oder das Gelingen unserer Zukunft verantwortlich. Niemand kann sich herausreden. Zu hoffen, es werde schon alles gut gehen, ist brandgefährlich. Wer untätig ist, stärkt die antieuropäischen Kräfte. Europa braucht jetzt jeden Menschen. Alle Teile der Gesellschaft haben die Pflicht, destruktiven und rückwärtsgewandten Tendenzen entgegenzutreten. Europa darf sich nicht spalten lassen.
„Alle Teile der Gesellschaft haben die Pflicht, destruktiven und rückwärtsgewandten Tendenzen entgegenzutreten.“ Als Anarchist sehe ich mich hier auch in der Pflicht. Und leider, leider besteht die EU fast nur aus „destruktiven und rückwärtsgewandten Tendenzen“ und genau darum muss ich ihr „entgegentreten“. Aber das tue ich nicht, indem ich noch destruktiver und rückwärtsgewandter bin, sondern indem ich mich für eine herrschaftsfreie Gesellschaft einsetze, in der es weder einen deutschen noch einen europäischen Staat gibt. Europa kann sich nicht spalten lassen, da es noch nie ein monolithischer Block war. Die aktuellen Zuspitzungen sind eine Folge von verschiedenen Zuständen, für deren Schaffung die EU stark mitverantwortlich ist: Krise, Krieg, Flucht, undemokratischer Bürokratismus, Schließung der EU-Außengrenzen…
These 4 Aufstehen und wählen gehen
Lasst uns den europäischen Gedanken wieder sichtbar und hörbar machen. Gebt europafreundlichen Parteien Eure Stimme. Wir sind überzeugt, dass die Zahl der Menschen, die der europäischen Idee positiv gegenüberstehen, viel größer ist als die der Europa-Gegner. Wir müssen aber lauter werden, um uns Gehör zu verschaffen und mit unseren Überzeugungen durchzudringen. Wir wollen die schweigende Mehrheit aufrütteln.
„Europafreundliche Parteien“ sind die Architekt*innen der Festung Europa, haben in Deutschland die Agenda 2010 erdacht und umgesetzt, sind für Frontex (x) und Eurosur (x) verantwortlich, lassen die südeuropäischen Länder Spanien, Portugal und Griechenland ganz bewusst und vor aller Augen ausbluten, haben die Dublin-Verordnung (x) durchgesetzt und ermöglichen eine immer dichtere Überwachung im Inneren und an den Außengrenzen. Der „europäischen Gedanke“ ist einer von Eigennutz, Herrschaft, Machterhalt, Willkür und Missachtung der Menschenwürde.
Der Irrglaube, dass wenn wir unser Kreuz bei der „richtigen“ Partei machen, alles wieder gut werden wird, ist leider noch weit verbreitet. Lustig aber auch tragisch, dass Pulse of Europe nicht sieht, dass genau dieser Irrglaube, das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie, zu dem geführt hat, was sie kritisieren. Es scheint für viele Menschen unmöglich zu sein, sich Alternativen zu diesem überall versagenden Organisierungsmodell vorzustellen.
These 5 Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit sind unantastbar
Die Freiheit der Einzelnen, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit sind weiterhin in ganz Europa zu gewährleisten. Auch in Zukunft muss in allen Lebensbereichen geltendes Recht verwirklicht werden. Unabhängige Gerichte müssen weiterhin ihre Kontrollaufgabe wahrnehmen können. Staatliches Handeln darf nur auf Grundlage rechtmäßig erlassener Gesetze erfolgen. In Teilen Europas wird bereits die Pressefreiheit eingeschränkt. Dem muss entgegengetreten werden.
Mit der „Freiheit der Einzelnen“ ist wohl die der EU-Bürger*innen mir richtiger Hautfarbe und richtigem Pass gemeint. Wären damit alle Menschen gemeint, käme in den zehn Thesen zumindest einmal ein solidarischer Halbsatz zu den Menschen an den EU-Außengrenzen und in den Container-Camps und Abschiebegefängnissen vor.
„Auch in Zukunft muss in allen Lebensbereichen geltendes Recht verwirklicht werden.“: Genau das passiert doch überall. Die einzelnen EU-Staaten und sein bürokratischer Überbau EU schaffen sich ständig notwendige Gesetze und schaffen somit „geltendes Recht“, das immer wieder und überall über die Bedürfnisse der Menschen geht.
These 6 Die europäischen Grundfreiheiten sind nicht verhandelbar
Personenfreizügigkeit, freier Warenverkehr, freier Zahlungsverkehr und Dienstleistungsfreiheit – die europäischen Grundfreiheiten – sind historische Errungenschaften, die aus Nationalstaaten eine Gemeinschaft gemacht haben. Sie sichern individuelle Freiheit und Wohlstand. Eine Beschneidung der Grundfreiheiten würde dramatische wirtschaftliche und persönliche Folgen auslösen. Nur durch die Gesamtheit der Grundfreiheiten wird die ausgewogene Verknüpfung von Rechten und Pflichten sichergestellt. Sonderwege und Ausnahmen führen zu einer Erosion der Gemeinschaft.
Was hier als „europäische Grundfreiheiten“ gefeiert wird, sind die Freiheiten des Kapitals. Personenfreizügigkeit ist ja erstmal was ziemlich cooles: Ich kann mich in der ganzen EU frei bewegen (theoretisch ohne Grenzkontrollen), kann von Grenoble nach Den Haag umziehen und dort einen Job annehmen. Yeah! Das ist Freiheit pur! Bei genauerem Hinsehen hat die Personenfreizügigkeit z.B. zur Folge, dass Menschen aus Polen für Hungerlöhne und unter menschenunwürdigen Zuständen in schwedischen Wäldern Beeren pflücken oder Menschen aus dem Osten der EU beim Spargelernten in Südwestdeutschland ausgebeutet werden (Mindestlohn hin oder her…). Dass die inner-europäische Migration, die mit der Personenfreizügigkeit einsetzte hauptsächlich von Ost nach West und von Süd nach Nord erfolgte, hat dann doch viele Zeitgenoss*innen überrascht: „Was, die nehmen ihre Rechte auch wirklich wahr?“ Die Folge war unverholener Rassismus gegen die Migrant*innen, das Aufwärmen alter Ressentiments und das Schaffen von Sonderegelungen, die den Missbrauch der wertvollen Freiheit unterbanden. Die drei weiteren „Grundfreiheiten“ versuchen ja nicht einmal ihre kapitalistische Fratze zu verbergen: Freier Warenverkehr, freier Zahlungsverkehr und Dienstleistungsfreiheit sorgen dafür, dass das Kapital ungehemmt und frei agieren kann und das auch tut. Die befürchtete „Erosion der Gemeinschaft“ ist ein komisches Bild. Es setzt voraus, dass es eine Gemeinschaft gibt. Diese wird gar nicht näher erläutert. Meine Fragen wären hier: Aus wem besteht sie? Warum gehören bestimmte Menschen nicht zu ihr? Gehöre ich dazu? Und wenn ja, wie kann ich ihr entkommen?
These 7 Reformen sind notwendig
Europa muss erhalten werden, damit es verbessert werden kann. Die europäische Idee muss wieder verständlicher und bürgernäher werden. Sie muss von unten nach oben getragen werden. Europa soll wieder Freude bereiten. Wer austritt, kann nicht mitgestalten.
Was ist diese ominöse „europäische Idee“? Ich habe diesen Begriff schon oft gelesen, er bleibt aber schwammig und beliebig. Auch hier. Bezieht er sich auf die oben kritisierten europäischen Grundfreiheiten? Wenn ja, dann ist es eine ziemlich blöde Idee. Dass irgendetwas „von unten nach oben getragen werden muss“, finde ich als Anarchist super, das ist einer der Grundmechanismen des Föderalsimsmus. Ich befürchte, dass hier etwas anderes gemeint ist und es sich auf ganze Staaten bezieht und nicht auf Individuen oder freie Kollektive. Aber immerhin soll das Ganze „wieder Freude bereiten“. Haha, was haben wir früher, als noch alles besser war, gelacht.
These 8 Misstrauen ernst nehmen
Die Europäische Union ist kein Selbstzweck. Ihre Aufgabe ist, Lösungen für die Themen zu finden, die für die Bürger tatsächlich wichtig sind. Es muss eine Fokussierung auf die wesentlichen Herausforderungen unserer Zeit stattfinden. Bedenken gegen die Europäische Union müssen gehört und an deren Ursachen muss gearbeitet werden, so dass Ängste in Zuversicht gewandelt werden können.
Blahblah. Genau das ist ja ein Hauptproblem der EU: Sie soll „Lösungen für die Themen zu finden, die für die Bürger tatsächlich wichtig sind“. Das ist von oben nach unten gedacht und behauptet zudem, dass die EU weiß, was für uns gut ist. Das bürokratische Monster EU ist völlig losgelöst von den Menschen, die sie mit irren Vorschriften und Gesetzen schikaniert. Als Anarchist sehe ich hier eine komplett gegenteilige Entwicklung, als die, die immer wieder propagiert wird: Es werden immer mehr Möglichkeiten der Selbstverwaltung und Selbstorganisierung weggenommen und immer mehr zentralisierte und genormte Verfahren geschaffen, die keine Rücksicht auf individuelle, regionale Bedürfnisse nehmen.
These 9 Vielfalt und Gemeinsames
Die Vielfalt innerhalb Europas ist großartig. Sie zu erhalten und regionale und nationale Identitäten zu wahren, muss europäisches Programm sein. Gleichzeitig verbindet uns Europäer so viel. Vielfalt und Gemeinsamkeit sind kein Widerspruch, und niemand muss sich zwischen regionaler, nationaler und europäischer Identität entscheiden.
Aua. „Nationale Identitäten“: Jetzt kommt’s. Soll hier doch im rechten Lager gefischt werden? Das Europa der Nationen und der Freiheit, so nennt sich die kleinste Fraktion im europäischen Parlament, ist ein Sammelbecken der rechten Parteien wie Geert Wilders Partei für die Freiheit, der deutschen AfD und des Front National. Sie alle schwafeln von „nationalen Identitäten“ ohne benennen zu können, was das denn sein soll. Und das liegt einfach daran, dass es sowas nicht gibt. Die nationalistische Behauptung von einer Identität, die durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation gestiftet werden soll, beinhaltet Rassismus, Chauvinismus, Antifeminismus und oft auch Antisemitismus. Sie ist ein Konstrukt des nach oben Buckelns und nach unten Tretens. Es dient den Herrschenden und sichert immer wieder ihre Macht.
These 10 Alle können mitmachen – und sollen es auch
Pulse of Europe ist eine zivilgesellschaftliche Initiative zum Erhalt Europas – überparteilich und überkonfessionell. Alle, die sich auf die europäische Grundidee einlassen, können sich einbringen. Der europäische Pulsschlag muss wieder spürbar werden.
Was ist denn dieser „europäische Pulsschlag“? Wieder ein komisches Schlagwort, das völlig inhaltsleer in den Raum geworfen wird, ohne, dass es auch nur annähernd mit Inhalt gefüllt wird. Er scheint nicht mehr spürbar zu sein, war es wohl aber einmal. Zu diesem glücklichen Urzustand will Pulse of Europe zurückkehren und das mit „allen, die sich auf die europäische Grundidee einlassen“.
Pulse of Europe ist ein eurozentristisches Projekt von idealistischen und bürgerlichen Europa-Fans. Ihre wahrscheinlich gut gemeinten Forderungen haben wenig Substanz und schon gar kein emanzipatorisches Potenzial: Sie sind gefangen in einer Welt von Herrschaft, Staat, Regeln, Gesetzen, Reformen, Mythen. Sie ignorieren die von der EU mitgeschaffenen, globalen Missstände und die Tatsache, dass die EU eine reine Wirtschaftsunion ist, die sich in Gänze der kapitalistischen Logik vom unendlichen Wachstum ergibt. Letztenendes würde ihre Bewegung und ihre Forderungen in den Megastaat Europa führen, der neuen Nationalismus, höhere Mauern, eine krassere Klassengesellschaft, noch mehr Armut, neue Kriege und totale Überwachung schaffen würde. Für all das gibt es jetzt schon deutliche Anzeichen und Tendenzen. Und diese blenden die Pulse of Europe-Aktivist*innen komplett aus. Sie schwelgen in einem fast schon naiven Europarausch, der auf der einen Seite lächerlich ist aber auf der anderen Seite auch gefährlich sein könnte.
Grundsätzlich finde ich die Vorstellung, dass sich die Nationalstaaten innerhalb von Europa auflösen, sehr verlockend: Eine Welt ohne Deutschland kann nur eine bessere sein. Das Problem ist nur, dass an die Stelle der kleinen Nationalstaaten ein wahrer Monsterstaat treten soll, der zwar im Inneren kaum noch Grenzbäume kennt, aber sich nach außen hin umso stärker abschottet. Heute schon ist die EU ein Europa des Kapitals und der Willkür. Sie ist nicht rett- oder reformierbar. Sie muss wie alle Nationalstaaten zerstört werden. Und wenn wir schon dabei sind, zerkloppen wir auch noch den Kapitalismus. Beide gehören untrennbar zusammen und beide stehen uns im Weg, wenn wir eine herrschaftsfreie Gesellschaft aufbauen wollen.
Ich werde mir dennoch mal die Pulse of Europe-Kundgebungen in meiner Stadt anschauen und versuchen, mit den Menschen dort ins Gespräch zu kommen. Die Hoffnung stirbt zuletzt!
Für eine Welt ohne Staat, EU und Kapitalismus.
Für die Anarchie!