Für eine neue anarchistische Synthese!
(Teil 2)
Rückblick
Im vorherigen Teil habe ich formuliert, dass die Ent-täuschung eine notwendige Grundlage für einen neuen Aufbruch darstellt. Weiterhin setzte ich strategisches ωir, im Wissen darum, dass Kollektivsubjekte immer (auch) kritisch daraufhin zu betrachten sind, ob sie auf Zwang beruhen. Gleichzeitig sind wir jedoch schon gemeinsam, woran ωir anknüpfen können. Dann habe ich versucht zu umkreisen, warum es wichtig ist, dass wir Debatten führen – Weil nie sowieso „alles klar“ ist. Es braucht Austausch, wenn ωir uns weiterentwickeln wollen.
| Bestandsaufnahme aus der Vogelperspektive |
Wir leben im Zeitalter der Apokalypse. Die Apokalypse ist allerdings kein großer Knall oder der spektakuläre Zusammenbruch mit Katastrophen, Mutanten, knappen Lebensmittelvorräten, Raumschiffen, die einen winzigen Teil der Erdbevölkerung retten und einem Pärchen, dass am Ende zusammenfindet und eine neue Menschheit begründet, wie uns die Bibel oder Hollywood weismachen wollen. Außerdem ist die Apokalypse menschengemacht. Sie ist nicht unaufhaltsam und bricht nicht über uns hinein, sondern wir leben täglich in ihr und mit ihr.
Um die globale Situation zu beschreiben, liefere ich an dieser Stelle keine Analyse, sondern belasse es bei bekannten Schlagworten: Lohnsklaverei, Sklaverei und Zwangsprostitution; Klimawandel, Ölkatastrophen, Atommüll, Plastikmeere, genetisch manipulierte Lebewesen und Tierausbeutung; Patriarchat und die fortbestehende Vorherrschaft des „weißen Mannes“; Verdummung, Verblödung, Verwirrung und „Unterhaltung“ der Leute; Ellenbogenmentalität, Grausamkeit, Narzissmus und Depression; offene oder verdeckte Kriege zur Behauptung von Staaten und Interessengruppen in der globalen Hackordnung; der Verfall kommunaler Infrastruktur bei gleichzeitiger Investition in neue Herrschaftstechnologien und den Ausbau der Überwachungs- und Repressions-apparate. ~ Dies sind nur einige Stichworte der irrwitzigen Situation in der wir lange schon leben, bei der sich jedoch kein Ende abzuzeichnen scheint, was uns wiederum umso kränker macht.
Für Menschen in den privilegierten Teilen der Welt – sei es den „westlichen“ Industrienationen, deren ungeheurer Reichtum auf globaler Ausbeutung, Raub und Kriegsführung beruht, sei es bei den Oberschichten aller möglichen Länder – mag es soweit noch ganz gut laufen. Rein materiell gesehen sogar besser, denn je. Global gesehen steigen auch viele Menschen in „Mittelschichten“ auf, kommen also gerade erst in den „Genuss“ einer zerstörerischen imperialen Lebensweise. Sie kaufen sich fröhlich SUVs und teure Wohnungen in den Innenstädten der Metropolen, die sie leer stehen lassen, reisen in Urlaubsparadiese und zu Meetings, schließen Lebensversicherungen ab, lassen neue Kameras an ihren Villen anbringen, eröffnen ein neues Schwarzgeldkonto in der Schweiz oder auf den Bahamas und investieren in was eben gerade so geht – den digitalen Wandel der Produktion und Arbeitswelt, Waffen oder Schweinebäuche. Sie leben nach dem Motto „Nach uns die Sintflut“ und tun doch alles daran, ihre Privilegien juristisch, militärisch, politisch, physisch und durch Mythologie abzusichern. Sie zu enteignen und zu entmachten ist die Herausforderung, der nur strukturell begegnet werden kann ‒ und die dennoch kaum ohne Blutvergießen ablaufen wird.
Doch jeden Tag sterben Menschen an Hunger, heilbaren Krankheiten, verseuchtem Trinkwasser, im „asymmetrischen“ oder Drogen-Krieg, auf der Flucht, durch patriarchale, sexistische, rassistische, antisemitische oder homophobe Gewalt, durch Terror – ob staatlich oder quasi-staatlich. Der physische Tod ist dabei nur das äußerste Kennzeichen der barbarischen weltweiten Herrschaftsordnung, der wir unterworfen sind. Alles andere ist Leid. Leid, dass sich Menschen innerhalb dieser Konkurrenzgesellschaft und den Gewaltverhältnissen, unter denen sie zu leben gezwungen werden, sogar dauernd gegenseitig zufügen. Leid, das immerfort gerechtfertigt wird, welches als „natürlich“ oder selbstverschuldet dargestellt werden muss. Leid, das aus dem einzigen guten Grund abgeschafft gehört: Weil es möglich ist, es abzuschaffen. Weil Menschen die technologischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Mittel dazu haben, die so weit reichen, dass sie selbst den Planeten nicht weiter zerstören müssten, um dies möglich zu machen. So wie vor vielleicht 200, mindestens aber 100 Jahren, sind auch heute mehr als genug Dinge da, um allen Menschen ein Leben in Würde und ohne Kannibalismus zu ermöglichen. Ängste vor Armut, sozialer Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit, die mit Wohltätigkeit abgemildert, durch die Unterhaltungsindustrie und sinnentleertem Konsum kompensiert und somit aufrechterhalten werden, sind zwar Folgen der Herrschaftsordnung, dienen zugleich jedoch auch ihrer Verfestigung.
___ Die Antwort auf die alltägliche Apokalypse?
ωir sind am Elend der Welt nicht schuld. Und dennoch wissen und empfinden ωir genauso, dass ωir offen oder ganz subtil in Herrschaftsverhältnisse und Ungerechtigkeiten verstrickt sind. Diese Beschreibung ist aber eine Bestandsaufnahme und keine Moralpredigt. ωir wissen, wie es um diese Welt bestellt ist. Wenn es an etwas nicht mangelt in dieser Gesellschaft des allgemeinen Mangels, dann an Information. (Ob ωir lernen, die relevanten herauszufiltern, ist freilich eine andere Frage). ωir wissen auch, dass ωir die allgemeine Misere nicht alleine oder mit wenigen verändern können.
Allerdings ist bei ʋns jeder Glaube an die Reformierbarkeit dieses Herrschafts-gefüges von Kapitalismus, Staat, Patriarchat, Nation und der Unterwerfung der Mitwelt erloschen. Die soziale Revolution ist daher für ʋns keine vermeintlich radikale Phrase oder (nur) ein von Sehnsucht beladener Bezugspunkt, sondern eine naheliegende Konsequenz. Für die soziale Revolution einzutreten, Stück für Stück auf sie hinzuarbeiten, sie zugleich heute schon zu leben, ist eine logische Schlussfolgerung aus dem, was ωir sehen, hören, denken, fühlen. Dabei wissen ωir, dass sie nicht mit einem großen Streich durch eine Avantgarde „gemacht“ werden kann, sondern, dass die neue Gesellschaft in der Schale der alten, in einem langen und mühevollen Prozess durch verschiedene Gruppen zu erarbeiten und zu erkämpfen ist. Die Grundgedanken der sozialen Revolution sind so alt wie wahr.
Einige Eckpunkte der Sozialen Revolution Ⓐ Ⓐ Ⓐ
Enteignung der Reichen durch eigenmächtiges Handeln
Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln, Boden und Kapital
(keine Kollektivierung von „persönlichen Dingen“, vor allem Zahnbürsten und Lieblingspullies)
Erlassung aller Schulden und Abschaffung der Erbschaft (abgesehen von persönlichen Dingen mit Erinnerungswert)
Abschaffung von Polizei, Militär und Geheimdiensten
Organisierung der Verteidigung gegen die Reaktion und ihre möglichst gewaltarme Niederhaltung
Kollektivierung der Produktion, Dienstleistung und Landwirtschaft durch Betriebsräte; Angebote an frühere Chefs und leitende Angestellte gleichberechtigte Mitglieder im Kollektiv zu sein
die Verkürzung des Arbeitstages auf maximal 4 Stunden gesellschaftlich notwendiger Tätigkeiten; Abschaffung des Lohnsystems
Abschaffung gesellschaftlich sinnloser Arbeit („Bullshit-Jobs“)
freier, kostenloser und bedingungsloser Zugang zu Nahrungsmitteln, medizinischer Grundversorgung, Bildung für alle; Versorgung der Alten, Kranken und Gehandicapten
Einrichtung von Konsumgenossenschaften, Kleidungskontoren, öffentlichen Werkstätten, Poli-Kliniken
kostenloser Nahverkehr und Ausbau umweltverträglicher Massenverkehrsmittel bei gleichzeitiger Begrenzung des (erdölbasierten) Individualverkehrs und Flugverkehrs
gleiches Mitspracherecht aller Berufsgruppen in Krankenhäusern, Verkehrsbetrieben, Logistikzentren etc.
sinnvolle Verteilung von Reproduktions- und Carearbeiten, unabhängig vom Geschlecht
Abschaffung der direkten und indirekten Sklaverei
Kollektivierung und Nutzung von Medienanstalten; keine Zensur, aber Beeinflussung der Massenkommunikation
Entmachtung der Mächtigen durch selbstorganisierte Aktionen
die Einrichtung eines Systems dezentraler, kommunaler Selbstverwaltungen und ihre Föderation; Wahl von Mandats- und Amtsträgern auf ein bis zwei Jahre bei steter Gewährleistung ihrer Abberufbarkeit (mindestens 50% nicht-männlich); Dokumentation ihrer Tätigkeit, Rechenschaftspflichtigkeit und Verhinderung jeglicher Privilegierung durch Tätigkeiten in Verantwortungspositionen; Würdigung von Verantwortungsübernahme und Diensten an der Gemeinschaft
ernste Empfehlung, vorherigen Mitglieder der herrschenden und verwaltenden Klasse (hohe Beamt*innen und Jurist*innen, hohe Politiker*innen und mächtige Unternehmer*innen) für mindestens 10 Jahre den Zugang zur Wahl auf jedes (imperative) Mandat und gewählte Amt zu verweigern
das Recht aller, einer Kommune oder einem Kollektiv beizutreten oder sie/es zu verlassen; keine Pflicht einer Kommune/eines Kollektivs, Mitglieder aufzunehmen, welche ihre Grundprinzipien nicht teilen; das Recht aller Kommunen/Kollektive, Mitglieder, die wiederholt gegen Grundprinzipien verstoßen auszuschließen, ohne jedoch ihre Vergehen weiter zu ahnden
Schutz vor Gewalt und Übergriffen, insbesondere für alle Minderheiten, Stigmatisierten und Diskriminierten durch antifaschistische Schutzgruppen
Entlassung aller Richter und Wahl von kommunalen Laiengerichten, die sich wechselseitig kontrollieren; Dokumentation ihrer Tätigkeiten
Schaffung der Grundlagen eines kommunal verabschiedeten modernen Gewohnheitsrechts (mit Hilfe von Konzepten wie „transformative justice“); Abschaffung von Haftstrafen, Erniedrigung und Folter; Einrichtung umfangreicher (freiwilliger) Resozialisierungsangebote
auf Antrag der Opfer oder ihrer Angehörigen: allein bei besonders schweren Vergehen (Mord, Vergewaltigung, grausame und schwerwiegende Gewaltanwendung) Verbannung in menschenwürdige Umgebung auf 5 bis 30 Jahre bei jährlicher Prüfung einer möglichen Rückkehr in die alte oder eine andere Gemeinschaft (mit deren Zustimmung)
bei besonders schweren Vergehen von Gefangenen (der alten Gesellschaft): Verbannung (s.o., nie jedoch länger als Hälfte der verbliebenen Haftstrafe); Befreiung aller übrigen Gefangenen
Übernahme des Bildungswesens; eigene Wahl der Lehrinhalte unter entscheidender Einbeziehung der heranwachsenden Menschen; Einrichtung der Gesamtschule; Abschaffung der Schulpflicht; Abschaffung von Eliteuniversitäten; Förderung des Zugangs zu allen Bildungswegen und der Allgemeinbildung durch Hochschulen für alle Lebensalter
besonderer Schutz von heranwachsenden Menschen und die frühe Förderung von Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein, Gemeinschaftsbewusstsein und Sensibilität
Herstellung antinationaler Solidarität und Aufbau globaler freundschaftlicher und solidarischer Beziehungen durch gewählte Delegierte
kollektive Erarbeitung einer neuen Kultur und Ethik, die sich auf Gleichberechtigung, Respekt, Solidarität, Individualität und ein Leben ohne Ausbeutung von nicht-menschlichen Tieren oder die Zerstörung der nicht-menschlichen Mitwelt gründet
gezielte Förderung der (Fähigkeit zur) Selbstbestimmung bei Sexualität und Drogengebrauch
gezielte Förderung aller freiwilligen Vereinigungen, die sich der Renaturierung des Planeten, dem kulturellen Austausch, der allgemeinen Bildung, der digitalen Vernetzung und freien Software und sonstiger Weiterentwickelungen zum Wohl Aller
Freiheit der Religionsausübung bei Abschaffung jeglicher Förderung von Religionsgemeinschaften und ihren Institutionen
Abschaffung jeglicher Förderung der bürgerlichen Ehe und Aufhebung ihres Status‘ als Institution der Gesellschaft; Gewährleistung der Betreuung von kleinen heranwachsenden Menschen
…
Ⓐ Ⓐ Ⓐ
Viele Details könnten in dieser Programmatik ausgearbeitet werden. Dies ist jedoch Angelegenheit der jeweiligen Kommunen und Assoziationen, welche sich diesen Grundlinien anschließen und die Anarchie verwirklichen wollen. Bei den umfassenden gesellschaftlichen Umwälzungen wird sich zeigen, welche Aufgaben sich konkret stellen. Und zwar denen, die sie betreffen. Ohnehin war es nie und ist es nicht Sache und Aufgabe der Anarchist*innen eine zukünftige Gesellschaft am Reißbrett zu entwerfen. Deswegen stellen die aufgelisteten Punkte auch kein umfassendes Programm dar, dem mensch einfach folgen bräuchte, welches also einfach nur abgearbeitet und durchgeführt werden könnte. Sie weisen lediglich in die Richtung, in welche es – aus vielen guten Gründen und Erfahrungen – gehen müsste, wenn ωir umschreiben, was Anarchie als gesellschaftliche Ordnung ausmacht. Sicherlich sind viele weitere gute Punkte zu ergänzen. Manch eine*r hält es dagegen vielleicht für problematisch schon so ins Detail zu gehen. ~ Worum es geht, ist, Orientierung zu gewinnen.
Und diese Orientierung muss von dem Kontext ausgehen, in dem ωir stehen und von den Bedingungen, denen dieser unterliegt. Alles andere wäre nur Gefasel. Gesellschaftsformen unterscheiden und verändern sich. Dies trifft auch auf Herrschaftsformen zu. Deswegen wäre es irre, demokratische und soziale Rechte pauschal abzulehnen – auch wenn sie uns gewährt werden und ωir mit staatsbürgerlichen Pflichten große Probleme haben. Denn sie wurden von ʋnseren Vorgänger*innen in bitteren und langen Auseinandersetzungen erkämpft. Dies sollten ωir würdigen und zum Ausgangspunkt nehmen.
Es kommt eben ganz auf die gesellschaftliche Position an, wem ωir welches Handeln empfehlen können. Beispielsweise wäre es völlig fehl am Platz, Menschen aus anderen Ländern nicht in ihrem Bestreben zu unterstützen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. Das Konzept Staatsbürgerschaft abzulehnen, ist nämlich ein Privileg derer, die in eine hochwertige Staatsbürgerschaft hineingeboren wurden. Umgekehrt müssen Menschen in ihrer politischen Sozialisation nicht „erst einmal“ eine Phase durchmachen, in der sie etwa in Parteijugendorganisationen sind, „bevor“ sie Anarchist*innen werden. Sie können es gleich werden, wenn sie freundlich angesprochen und eingebunden werden – was aber auch bedeutet, dass sie mit ihren demokratischen Illusionen brechen.
Nur, weil viele Menschen heute die Überlegung zur sozialen Revolution für „unrealistisch“ halten, heißt das nicht, dass sie nicht Wahrheit beinhaltet. Es waren immer überzeugte Minderheiten, die gesellschaftliche Entwicklungen vorangebracht haben (im Guten, wie im Schlechten). Realistisch erscheinen die vermeintlich so großen Ansprüche, wenn ωir unsere Blicke weder allein auf die Makroebene der Gesellschaft „als Ganzes“ richten, noch ausschließlich auf unsere unmittelbare Umgebung schauen und lediglich „Mikropolitik“ betreiben. Es gilt nicht nur zu beachten, dass sich beide ineinander widerspiegeln, sondern die mittlere Reichweite unseres Handlungsradius‘ auszukundschaften. Ähnlich sieht es in Hinblick auf die Zeitlichkeit der Verwirklichung ʋnserer Ziele aus. ωir sollten uns weder nur auf ultimative Fernziele richten, noch allein im Hier&Jetzt agieren, sondern immer etwas über das Alltagsgeschehen hinausblicken und nach Möglichkeit Ziele auf ein, drei, fünf oder zehn Jahre abstecken. Die adäquaten Methoden und Wege lassen sich nicht abstrakt im Vorhinein bestimmen, sondern ergeben sich aus den konkreten Kämpfen sozialer Bewegungen.
Nur, weil die sozial-revolutionären Kräfte heute viel zu schwach sind, heißt dies nicht, dass sie sich nicht an einer Vision ausrichten sollten, welche ambitioniert ist und über das Bestehende hinausweist. Im Gegenteil: Nur, wenn ωir (mit vielen anderen) neue Geschichten spinnen, wie es grundlegend anders werden kann und wohin die Reise gehen soll, werden wir handlungsfähig. Dabei müssen ωir das linke Jammertal verlassen, jene ewige Identifikation mit den Verlierer*innen und Besiegten – zumindest, wenn sie eigentlich eine Projektion unseres eigenen Ohnmachtsgefühls, bloßen Mitleids oder Gerechtigkeitsbedarfs darstellt. Denn auch die Identifikation mit den Unterdrückten ist eine zugewiesene und aufgedrückte Identifikation. ʋnsere Geschichten handeln von Menschen, die frei sind, weil sie Würde besitzen und für das schöne Leben für alle kämpfen.
Nur, weil das Bewusstsein aller Menschen unter dem gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft getrübt ist und sie emotional abgefuckt sind, behindert werden und sich in psychischer Verhaftung zur Herrschaft befinden, heißt dies nicht, dass die angebrachten Punkte – nüchtern und von einer gewissen Wertebasis her betrachtet ‒ nicht absolut vernünftig wären. Und schließlich: Nur, weil mit der beginnenden Umsetzung des anarchistischen Programms (und sei es im ganz Kleinen) zurecht eine gewaltsame Unterdrückung seiner Träger*innen zu befürchten ist, handelt es sich dennoch nicht um ʋnsere Gewaltanwendung. Nein, die Herrschenden, ihre bezahlten Verteidiger*innen und die psychisch Deformierten, die sich mit der bestehenden Ordnung identifizieren (auch wenn sie ebenfalls unter ihr leiden) ‒ sie wenden Gewalt an!
+ + + Träger*innen und Subjekte der sozialen Revolution +
Wer aber soll die soziale Revolution durchführen? Diese Frage ist so berechtigt, wie sie mir gleichzeitig ein müdes Lächeln abverlangt. In meinen Ohren klingt sie etwa so, wie in alten Zeiten konservative Politiker*innen sozialdemokratischen Politiker*innen die rhetorische Frage an den Kopf warfen: „Wer soll das denn alles bezahlen?“, um sie vermeintlich bloßzustellen, mit ihren dreimal entschärften Minimalforderungen. Allerdings stimmt es ebenfalls, dass ein alltagsanarchistisches „Wer macht, die*der macht“ ʋns nicht zum bedachten und kontinuierlichen Ausbau ʋnserer Macht führt, die für die soziale Revolutionierung erforderlich wäre. Zudem weist diese Herangehensweise meiner Ansicht nach auch nicht in die Richtung, welche meiner Vorstellung von Anarchie entspricht. So wie es in der alltäglichen (Anti-)Politik bestimmte Gründe hat, wer die Kapazitäten, die Erfahrung, die Motivation und den Mut hat, bestimmte Aufgaben zu übernehmen, Ziele zu bestimmen und voranzugehen, so ist es auch bei der sozialen Revolution. Logischerweise – denn ωir leben sie ja bereits.
Fest steht (so felsenfest, wie je ein Typ gesagt hat, dass etwas „fest steht“, wenn er etwas fest stellt): Es braucht Zeit, Ressourcen, Wissen, Kontakte, Fähigkeiten, Erfahrungen, Initiative, Entschlossenheit, Überzeugung, Freude, Tanz und eine verbindlich zusammenhaltende, solidarische Gemeinschaft von sozialen Revolutionär*innen. Und dabei geht es um bestimmte Dinge. Zum Beispiel brauchen Sozial-Revolutionär*innen die Fähigkeit, mit sozialen Medien eine weitreichende, populäre aber dennoch emanzipierende Propaganda zu machen. Aber sie brauchen nicht die Fähigkeit, sich bei facebook oder instagram selbst besonders in Szene zu setzen. Sie brauchen Erfahrungen in wirklichen sozialen Kämpfen, hingegen keine darin, hunderte PC-Games durchgezockt zu haben. Und sie brauchen die Entschlossenheit, eine bessere Welt zu schaffen, nicht aber dazu, Rache zu üben. Was es für die solidarische Gemeinschaft braucht, ist gegenseitige Wertschätzung und Anerkennung. Was es für sie hingegen nicht braucht, sind Märtyrer*innen und Märtyrer*innenkulte. Anarchist*innen sehen beides: die „objektiven“ Bedingungen, die unsere Handlungsmöglichkeiten vorgeben und die „subjektiven“ Faktoren, welche dazu beitragen, sie auf bestimmte Weise zu nutzen – und zu erweitern. Doch da die scheinbar subjektiven Faktoren durch die scheinbar objektiven bedingt sind, die Bedingungen aber von handelnden Menschen gestaltet werden, versuchen sie diesen Widerspruch aufzulösen.
Auf welches „revolutionäre Subjekt“ können ωir ʋns also beziehen? In der aktuellen Situation lässt sich diese Frage nicht beantworten. Es ist aber auch nicht an ʋns, sie zu beantworten. Vielmehr werden sich revolutionäre Subjekte in konkreten Auseinandersetzungen zeigen. Und sie zeigen sich schon ‒ wenn wir genau hinschauen. Die Arbeiter*innenklasse ‒ im alten sozialistischen Sinn ‒ kann keineswegs der alleinige Bezugspunkt sein. Schon gar nicht, wenn ihr eine „historische Mission“ angedichtet wird, die sie zu erfüllen hätte. Linksliberale formulierten eine „Identitätspolitik“, die ihre Berechtigung hat. Die konstruierten „Minderheiten“ für „revolutionäre Subjekte“ zu erklären, ist weder richtig in der Analyse, noch fair jenen Gruppen gegenüber. Die soziale Revolution wird auch nicht woanders stattfinden, beispielsweise in den Ländern des sogenannten „Trikont“, wie die antiimperialistische Theorie behauptete. Nein, sie wird bei uns und mit ʋns stattfinden oder sie wird gar nicht stattfinden. Und zwar, weil sie zugleich in Kurdistan, Chiapas und in vielen anderen Gegenden stattfindet. Und was ist mit Studierende+Arbeiter*innen+antikolonialer Befreiungskampf, wie es ‘68 hieß? Auch hier haben sich die Verhältnisse verschoben. ωir können uns nicht unkritisch den alten Theorien bedienen und ihnen einfach folgen.
Auch wenn die Frage nach dem „revolutionären Subjekt“ an dieser Stelle nicht beantwortet werden kann, so kann doch festgehalten werden:
1) In jedem Fall wird die soziale Revolution nur in einem Bündnis aus ganz verschiedenen Gruppen an verschiedenen Orten möglich. 2) ʋnserem Verständnis nach ist es keine soziale Revolution mehr, wenn sie von einer Avantgarde angeführt und zentral ausgerichtet wird. 3) ʋnserem Verständnis nach zielt die soziale Revolution darauf ab, die Staatsmacht zu umgehen, anzugreifen und andere Strukturen an ihre Stelle zu setzen. 4) Jene, die von Herrschaftsverhältnissen am schwersten betroffen sind, brauchen die Unterstützung von relativ privilegierteren Gruppen, damit sie sich selbst befreien können. 5) Wenn ωir Teil der sozialen Revolution sein wollen, müssen auch ωir ʋns verändern, müssen auch ωir ʋns (kollektiv) selbst befreien. Selbstveränderung und Gesellschaftstransformation gehen dabei miteinander einher und sind nicht „nacheinander“ zu vollziehen. + + + + +