Eine Erwiderung auf „Recht behalten oder revolutionär mehr werden ?“

Zu den Gedanken von Jonathan Eibisch in Gai Dao N° 98 02/2019 zu: „Herrschaftsfrei statt populistisch Aspekte anarchistischer Staatskritik“ (Wolfgang Haug/ Michael Wilk, Edition AV 2018)

Die Konstruktion der Macht untergraben…
von Michael Wilk

Eine gute –auch scharfe Kritik – ist eine Chance. Jonathan Eibischs Bemerkungen „-einige Gedanken v.a. zum Populismus-Verständnis in „Herrschaftsfrei statt populistisch. Aspekte anarchistischer Staatskritik“, wimmeln jedoch von Fehleinschätzungen, Pauschalisierungen und Attacken. Es ist eine Form von „Kritik“, die an Besserwisserei erinnert, also in einer Art daherkommt, bei der es eher darum zu gehen scheint, selbstdarstellerisch eine Position zu proklamieren, anstatt sich wirklich mit einem Buch zu befassen. Das ist schade.

Als Wolfgang und ich 1995 den „ Der Malstrom – Aspekte anarchistischer Staatskritik“ verfassten, ging es darum Macht und Herrschaft einer aktualisierten Analyse zu unterziehen. Über die reine Beschreibung (Entlarvung) bestimmter Herrschaftsformen hinaus, standen das Verstehen und eine Einschätzung der sich wandelnden Funktionen des modernen Staates und seiner hochflexiblen Mechanismen der Herrschaftssicherung im Focus der Betrachtung. Dies unter anderem mit dem Ziel, bezüglich der veränderten Bedingungen adäquat agieren zu können. „Gemeint ist ein Staat, dessen Charakter sich dadurch auszeichnet, dass er seine Organisierungsform dem Menschen nicht entgegenstellt, sondern flexibel die Bedürfnisse und Wünsche aufgreift, moduliert und verformt. Er zieht Integration und Versöhnung der dumpfen Unterdrückung vor und entzieht so seine Feindseligkeit der Wahrnehmung. Ein in diesem Sinne moduliertes Machtsystem reduziert den Freiheitsbegriff zur kalten lebensleeren Fiktion – bis hin zum Ersatz durch eine neue systemkonforme Wertigkeit (Freiheit und Abenteuer, freie Fahrt für freie Bürger).“(M.W. Malstrom)

Die „Konstruktion der jeweils aktuellen Macht zu untergraben“ (Klappentext Malstrom), bzw. untergraben zu können, bedingt die Kenntnis der Herrschaftsmechanismen. Eben darum geht es.

Die Absicht des „Malstrom“ und ebenso der aktualisierten und ergänzten Neufassung des „Herrschaftsfrei statt populistisch“ Buchs war/ist also nicht nur, ein wertvolles Zeitzeugnis (Eibisch) zu sein, sondern verfolgt das Ziel, einen Beitrag zur anarchistisch-emanzipativen Strategie zu leisten. Eine Auseinandersetzung, die sich nicht nur theoretisch im Reagenzglas abspielt, sondern die selbstverständlich den anarchistischen Einfluss auf z.B. soziale Bewegungen einer kritischen Bewertung unterzieht: „Eine „radikale Politik“, die sich mit ihren Aktionen und Organisationsbemühungen nur an Highlights oder an Punkten sozialer Konflikte orientiert (Das „Springen“ von einer sozialen Bewegung zur nächsten), erschöpft sich für uns im besten Fall darin, libertäre*r Multiplikator*in zu sein. Nach dem Niedergang der jeweiligen sozialen Bewegung – geteilt und durch Reintegration beherrschbar gemacht oder auch kriminalisiert – und nicht zuletzt durch Rituale der Selbstbestätigung ihrer sozialen Wirkung beraubt – verbleibt meist nur wenig Gehaltvolles. Rudimentäre Strukturen ehemals eindrucksvoller Bewegungen (Anti-AKW) oder fast vollständige Auflösung (Startbahn-West) reduzieren die soziale Wirkung oft nur auf die, wenn auch nicht unwichtige, Ebene persönlicher Biographie. Die ‚Kurzlebigkeit‘ der meisten Gruppen und Initiativen ist geradezu ein Charakteristikum libertärer Politik.“(M.W. Malstrom)

Wesentlicher Bestandteil der Auseinandersetzung waren/sind dabei sozial-psychologische Aspekte von Macht und Herrschaft, sowie die eigene Eingebundenheit von uns als handelndem Subjekt: „Wie beschrieben, haben wir es bei der „modernen Form staatlicher Herrschaft“, mit einem System von Machtzirkulation zu tun, die sich der Wahrnehmung eher entzieht, indem sie Konfrontation meidet und nicht auf, sondern durch die Menschen hindurch wirkt. Auch „durch uns“ wirkt ein Staatssystem, das den gesamten sozialen Körper mit einem Funktionsgeflecht der Macht zu durchziehen sucht, das die Menschen integrativ okkupiert, Identifizierungsebenen schafft und den gesellschaftlichen Mainstream als Autoregulativ nutzt, und sich so Zugang geschaffen hat zu den Prägungsebenen von Werten und Glücksgefühlen.“(M.W. Malstrom). Zur Betrachtung und zur Analyse stand und steht ein vielschichtiges Herrschaftssystem, das wandelbar und kreativ auf emanzipativen Widerstand reagiert, diesem nicht nur repressiv, sondern ebenso umarmend und integrierend begegnet. Herrschaftsstrategien, die sich im Laufe der letzten Jahre immer mehr verfeinert und auch entsprechende Techniken/Verfahren entwickelt haben. (Dazu: „Strategische Einbindung. Von Mediationen, Schlichtungen, Runden Tischen … und wie Protestbewegungen manipuliert werden. Wilk/Sahler Edition AV 2014).

Wie J. Eibisch bei der Lektüre unseres Buches zu der Meinung gelangen konnte, es handelte sich um eine „Verteidigung des demokratischen Kapitalismus“ entzieht sich meiner Kenntnis, leichter nachvollziehen kann ich da sein Bedürfnis, „zur Abwechselung mal anarchistische Politik zu machen“, auch wenn er im nächsten Satz klarstellt, nicht zu beabsichtigen „hier selbst die `Lösungen` zu präsentieren. Ist vielleicht auch gut so, denn Eibisch – der uns unterstellt es bei der reinen Systemkritik zu belassen – versucht sich dann doch an einem konstruktiven Vorschlag: „Wir sollten den Anspruch haben mehr zu tun und konkrete Utopien zu verwirklichen, mit denen sich viele Menschen identifizieren können, weil sie an ihren Lebensrealitäten anknüpfen“. Hört sich gut an, ist auch nicht ganz neu diese Forderung. Wie sehr jedoch Eibisch irrlichtert, zeigt sich in der von ihm gezogenen Konsequenz, in der er allen Ernstes dazu auffordert, sich zur Erreichung dieses Ziels des Populismus zu bedienen: „und dennoch bleibt Politik zu machen – und sich dazu auch eines ihrer Wesensmerkmale, dem Populismus zu bedienen – meiner Ansicht nach eine bittere Notwendigkeit“. Und weiter: „Zumindest wenn die Verwirklichung und Ausbreitung von gelebter und instituierter Anarchie kein schöner Wunschtraum oder exklusives Szeneprojekt bleiben soll“. Eibisch propagiert also ernsthaft Populismus als geeignete Methode zur Erreichung anarchistischer Ziele – dies in der Besprechung eines Buches, das sich mit Populismus als Methode autoritär-faschistischen Machtstrebens auseinandersetzt und sich über viele Seiten hinweg der perfiden Psychomechanismen widmet, die der populistischen Strategie innewohnen. Müßig sich zu fragen, ob Eibisch das Buch nur überflogen und überhaupt verstanden hat, oder ob er auch nur provozieren will? Es wird auch nicht besser, wenn er uns in der Folge zustimmt, dass der Populismus eines „rechts-autoritären Hegemonieprojekts“ durch Verkürzung, Angstmache, Hetze und Ausgrenzung funktioniert und dann aber behauptet, dass „neoliberale Technokrat*innen nur Fressen, aber keine Moral und Vision anzubieten haben“. Denn oft genug ist das Gegenteil der Fall – besagte Technokrat*innen bieten zunehmend eben keine realen, ökonomisch-materiellen Verbesserungen, sondern die dumpfbackig-reaktionäre Moral eines rassistischen Elite-Konzepts, das völkische Visionen als Ersatz für empfundene, reelle oder drohende Deklassierung bietet.

Eibisch missversteht die kritische Auseinandersetzung mit populistischen Strategien als Ablehnung emotionaler Themen (bitte in Zukunft richtig zitieren, es heißt an besagter Stelle „Gefühlsebenen“ und nicht „Gefühlsleben“) und unterstellt: „Anstatt sich aber tiefergehender dem „Denken, Fühlen und Handeln“ zu widmen, an welches sogenannte „Populistinnen“ anknüpfen könnten, wehrt Wilk Emotionalität im Politischen als irrational und irgendwie immer bösartig werdend ab.“ Dumm gelaufen – leider noch einmal grandios danebengegriffen: Die Benennung massenpsychologischer Prozesse, wie z.B. die Antriggerung und Funktionalisierung von Ängsten und Aggressionen durch Populisten und Faschisten, beschreibt zwangsläufig auch irrationale Aspekte wie z.B. rassistische Mythen und Verschwörungstheorien. Dies hat jedoch natürlich nichts mit der Ablehnung von Emotionen in der politischen Auseinandersetzung zu tun. Im Gegenteil – die Beschäftigung mit den emotionalen Ebenen, vor allem auch unserer eigenen, ist elementarer Bestandteil in der emanzipativen Auseinandersetzung. Denn nur dann wird die Sache rund: Ein respektvoller und ernsthafter Umgang mit Emotionen, auch unseren eigenen Ängsten und Sicherheitsbedürfnissen, unterscheidet sich grundsätzlich von der Funktionalisierung von Gefühlen durch eine populistische Strategie. Während diese auf Abhängigkeit, Ein- und Unterordnung, sowie Etablierung von Herrschaft abzielt, wollen wir die Einleitung befreiender emanzipativer Prozesse, mit dem Ziel der Selbstständigkeit, der Entfaltung im solidarischen Miteinander.

Zu dieser Problematik findet sich in „Herrschaftsfrei statt Populistisch“ auf Seite 31 eine Fußnote, ein Zitat aus „Macht, Herrschaft, Emanzipation“: “Eine Herausforderung, die beileibe nicht neu ist, und deren unzureichende Bewältigung uns nun auf die Füße fällt: „Es gilt zu intervenieren, nicht nur, weil wir selbst Betroffene sind, sondern auch, um nicht denen Raum zu geben, die Risse im gesellschaftlichen Gefüge mit rassistischen und autoritären Inhalten füllen, die schnelle Lösungen anbieten auf Kosten derer, die ausgegrenzt oder von Ausgrenzung bedroht sind. Emanzipative Ansätze entwickeln sich nicht automatisch aus gesellschaftlichen Spannungen heraus; ein sensibler Umgang mit der Angst vor neuen (nicht autoritären) Perspektiven bedarf eines ansatzweise tragfähigen sozialen Gerüstes; Strukturen, die im persönlichen und menschlichen Bereich Sicherheit vermitteln – eine Sicherheit, die nicht erdrückt und neue Abhängigkeiten schafft, sondern Handlungsebenen erschließt. Aspekte einer Widerstandskultur, die sich, wie schon oft gefordert, eben nicht nur an den Frakturlinien des gesellschaftlichen Funktionierens entwickeln darf, sondern vor allem auch im Bereich des „normalen“ sozialen (Alltags-) Gefüges.

Die kritische Überprüfung „unserer“ zwischenmenschlichen Beziehungen und Gruppenstrukturen hat an Notwendigkeit nichts eingebüßt. Erwartung von emanzipativem Verhalten wird schnell zur arroganten Überforderung, wenn nicht eigene Bereitschaft zum sozialen Handeln dieser Erwartung erfahrbar zur Seite gestellt wird. Die Auseinandersetzung mit Widerstandsperspektiven muss somit die strukturellen Veränderungen ökonomischer Faktoren berücksichtigen, ohne dabei die sozialpsychologischen Ebenen und deren Durchwirkung zu vernachlässigen. (Wilk, Michael „Macht, Herrschaft, Emanzipation-Aspekte anarchistischer Staatskritik“ Trotzdem Verlag 1999 online: http://www.michael-wilk.info/schriften.php )

Eibisch wäre gut beraten auch die Randbemerkungen und vor allem gründlich zu lesen, bevor er uns die Verteidigung des Kapitalismus unterstellt:

Sich auf die plakativen Inhalte der AfD und anderer rechten Gruppierungen zu fokussieren, hieße auch, die düstere Seite, normalen staatlichen Prozederes in seinen dunkelsten Schattierungen unterbelichtet zu lassen und diese vergleichsweise normal und harmlos, ja positiv und schützenswert erscheinen zu lassen. Staatliche Rassismen, Ab- und Ausgrenzung, Frontex und Abschiebelager, Einreisehindernisse und Repressalien würden so zum akzeptierten menschenfeindlichen Standard.“ (Herrschaftsfrei Seite 33)

Abschließend sei bemerkt: „Die eigene Eingebundenheit in Funktionsgeflechte der Macht – und die eigene Korrumpierbarkeit zu begreifen, ist Voraussetzung für die Suche nach antagonistisch der Herrschaft begegnenden Handlungsperspektiven. Zur Entwicklung einer individuellen Souveränität, die in der Lage ist, die „Freiheit des Ichs“ – der „Freiheit des Systems“ entgegenzustellen, bedarf es einer Vielzahl, von uns neu zu definierenden Konfrontationsebenen gegen den Gleichfluss deformierten Menschseins. Es geht in diesem Sinne vor allem um die Entwicklung einer lebendigen anarchistischen Philosophie, die sich der staatlichen Okkupation von Bedürfnissen, Wünschen und Glücksgefühlen entgegensetzt. Die eigene eingeschränkte Sichtweise so mancher anarchistischer Zirkel zu erweitern und über den Tellerrand „revolutionärer“ Befindlichkeit hinauszublicken, hätte einen unkonventionellen, kreativen Umgang unter uns, aber auch mit anderen (im schlimmsten Fall sogar mit Nicht-Anarchistinnen) Unzufriedenen zur Voraussetzung. Insofern versteht sich dieser Text als Aufforderung zum Diskurs.“ (Herrschaftsfrei/Malstrom S. 115)

Wolfgang und ich sind im Übrigen beileibe keine abgehobenen Theoretiker, sondern seit vielen Jahrzehnten – jeder auf seine Art – tief in sozialen Auseinandersetzungen verwurzelt. Das Schreiben von Texten ist auch Ergebnis dieser Praxis.

Lesung/Diskussion: Anarchistische Buchmesse Mannheim, Samstag 11. Mai, 17.30 Uhr Michael Wilk

Toleranz ist kein bürgerliches Geschwafel sondern Kampf um die Freiheit

von Wolfgang Haug

Jonathan Eibisch hat in der Gai Dao im Januar sich langatmig mit dem Buch „Herrschaftsfrei statt populistisch“ auseinandergesetzt. Das freut uns ganz grundsätzlich und für konstruktive Kritik sind wir beide sicherlich ganz offen und hören genau hin. Und deshalb geben wir jetzt jeder für sich und doch gemeinsam unsere Antwort zu den Vorhaltungen Jonathans.

Zuerst zu seiner Methode. Wenn er einer Aussage zustimmt, dann schwächt er dies ab, mit einer Bemerkung in dem Sinne, „war aber alles schon bekannt“. Wenn er kritisiert, verliert er schnell die konstruktive Ebene und wird persönlich oder es wird sehr klischeehaft und plakativ: „Verteidigung des demokratischen Kapitalismus“, „Verteidiger der Demokratie“, „Toleranz als bürgerliches Geschwafel“, „Wohlfühlblase“ und „zutiefst konservative Haltung“… zu guter Letzt unterstellt er uns die „Angst“, die wir bekämpfen wollten; das fordert dann doch zu einigen Erklärungen und Fragen an Jonathan heraus:

Zunächst könnte ich ihn fragen, was er denn unter „konservativ“ versteht, denn es macht wenig Sinn mit Worten um sich zu werfen, wenn die Inhalte in völlig falsche Denkrichtungen führen. Wenn er meint, ich sei „konservativ“, weil mir die Errungenschaften der sozialen Bewegungen seit den 70er Jahren, des Feminismus, der Umweltbewegungen, von Diversity, von Fair trade, von gegenseitiger Hilfe, von selbstorganisierten und selbstverwalteten Arbeitsweisen uva. als Teil kultureller Hegemonie verteidigenswert erscheinen, dann hat er zweifellos recht, dann bin ich – zwar erstmals in meinem Leben, aber immerhin – „konservativ“. Und bitte, ich habe bewusst „Teil“ gesagt, nicht die kulturelle Hegemonie; denn mit all diesen positiven Bewegungen ist – wie wir alle wissen – eben nicht die Wohlfühlblase entstanden.

Wenn Jonathan sich die Mühe macht und einige befragt, was ansonsten unter konservativ“ verstanden wird, wird er vermutlich kaum deckungsgleiche Antworten erhalten. Aber genug zu seiner seltsamen Wortwahl, denn darum geht es eigentlich nicht.

Um was kann es in einer Gesellschaft gehen, und damit meine ich eine Gesellschaft, die wir heute haben, an deren Macht- und Herrschaftsmechanismen wir uns abarbeiten (nicht die wir verteidigen!) und gleichzeitig meine ich eine freie Gesellschaft? Denn wenn wir definieren können, was wir in einer freien Gesellschaft erreichen wollen, haben wir auch die Ansätze, an denen wir hier und heute arbeiten und uns einmischen können. Und in der Folge haben wir die klare Bestimmung unserer Gegner, die genau diese Entwicklung mit allen Mitteln verhindern wollen oder Schritte in die richtige Richtung wieder zunichtemachen wollen. Die derzeit gängige Methode unserer Gegner*innen ist der medienwirksame sogenannte „Populismus“.

Eine freie Gesellschaft setzt sich für die soziale Gleichwertigkeit aller ein. Es handelt sich um eine Gesellschaft, die von einer heterogenen Diversität gekennzeichnet ist. Die das Fremde, das Andere nicht mehr als fremd und anders empfindet, sondern als selbstverständlich, vielfältig und natürlich. Dieser Toleranzbegriff ist kein bürgerlicher Begriff, sondern ein Ziel, das diese bürgerliche Demokratie noch lange nicht erreicht hat und von dem sie sich in der populistischen und nationalistischen Herrschaftsvariante bewusst und gezielt weiter entfernt. Um es noch deutlicher festzuhalten, die heutige kapitalistische Demokratie basiert auf der sozialen Ungleichwertigkeit.

Die soziale Ungleichheit, z.B. bei Bildungschancen ist gewachsen, 30% unserer demokratischen Gesellschaft lehnen jede Form von sexuellen Verhaltensweisen ab, die der nationalen homogenen Leitkultur nicht entsprechen, d.h. 30% beziehen ihre Identität und ihr Selbstwertgefühl in der Abwehrhaltung gegen einen neuen gesellschaftlichen Konsens, der eine Gleichwertigkeit als richtig anstrebt. Oder nehmen wir die zunehmende Aggression gegen Wohnsitzlose oder noch einfacher: nehmen wir die Bereitschaft, Geflüchteten Wohnungen zu vermieten. Es gibt viele ähnliche Argumentationen, mit der die Ungleichwertigkeit von Menschen in dieser Gesellschaft benannt werden kann, die begründen, weshalb sich der Toleranzbegriff bestens eignet, um genau das zu erreichen, was Jonathan sich erhofft: nämlich ‚mehr‘ zu werden, Viele von anarchistischen Denkweisen zu überzeugen. Solange er sich aber abschottet und genau diese zentrale Auseinandersetzung – ob aufgezwungen oder selbst gewählt macht keinen Unterschied – nicht annimmt, sie sogar denunziert, stellt er sich ins gesellschaftliche Abseits und wird nichts bewirken. Er wird weiter von der Anarchie träumen, aber die möglichen und notwendigen Schritte nicht gehen.

Die Rechtspopulist*innen oder Rechtsnationalist*innen und die Rechtsextremist*innen, um zu unserem Thema zurückzukehren, wollen die Ungleichwertigkeit für alle Gruppen, die für sie nicht in die nationale homogene Leitkultur passen, zementieren. Je mehr es ihnen gelingt, je näher gelangen sie zu gesellschaftlicher Macht. Ihr Zulauf ist auch (nicht nur) ein Reflex auf die Konservativen in der großen Koalition, die in kleinen Schritten modernisieren, weil sie darin einen Kosten-Nutzen-Faktor sehen, aber dadurch die Leitkultur zu verschieben drohen. Dem wirken die Rechtspopulisten mit allen Mitteln entgegen und ihre Methode ist die „Emotionalisierung der vielbeschworenen schweigenden Mehrheit“ mittels ihrer Provokationen.

Wenn Jonathan Verständnis für diese Emotionen aufbringt, dann muss gefragt werden, ob er hier nicht ganz offensichtlich die rechtsnationale Argumentation akzeptiert, dass diese Emotionen berechtigt seien. Denn genauso funktioniert doch der Rechtspopulismus/-nationalismus: „Das wird man ja noch sagen dürfen.“ Dieser emotionale Ausruf ist genau dazu da, gesellschaftliche Tabus zu brechen und Wertvorstellungen nach rechtsaußen zu verschieben. Die Bürger*innen – und die bürgerliche Mittelschicht ist hier genau das Zielobjekt – können hinter der „freien Meinungsäußerung und ihrer ach so berechtigten Emotion“ den eigenen Rassismus, die eigenen Vorurteile, ihre Menschenfeindlichkeit und ihre Angst, Privilegien teilen zu müssen, wunderbar verstecken. Von Migrant*innen fühlen sich die Einheimischen bedroht, sie könnten ihre Vorrechte aufgeben müssen. Auch Sarah Wagenknecht bediente diese rechtspopulistische Argumentation, als sie zu laut überlegte, ob die Geflüchteten nicht den Arbeitslosen im Land Konkurrenz machen. So spielt man das Spiel des politischen Gegners, es wird emotional argumentiert und die Rechtspopulist*innen und Faschist*innen müssen alles nur am Kochen halten und munitionieren durch andauernde Wiederholungen der Stammtischparolen jedwede Angst. Unterstützt durch die ausführlichste Berichterstattung werden ihre Mantras zur Gewissheit: die Muslime verdienen die Gleichwertigkeit doch nicht, weil sie ihre Frauen unterdrücken, die Arbeitslosen verdienen die Gleichwertigkeit doch nicht, weil sie faul sind, die „Wirtschaftsflüchtlinge“ verdienen sie nicht, weil sie „unsere“ Sozialleistungen abgreifen wollen. Und unsere demokratischen Politiker*innen gehen faule Kompromisse ein und erlauben Homosexuellen, Kinder zu adoptieren.

Schöne Emotionen unserer bürgerlichen Mittelschicht, die wir wohl nicht unwidersprochen lassen dürfen, wollen wir nicht einer neuen (gleichzeitig uralten) Herrschaftsform beim Wiederentstehen teilnahmslos zusehen. Ist der Kampf um „Toleranz“ oder die Akzeptanz aller, um die Gleichwertigkeit aller, wirklich nur bürgerliches Geschwafel oder doch unser gemeinsamer Kampf um die Freiheit des Individuums in einer freien Gesellschaft? Und kann uns der Kampf für die Gleichwertigkeit aller nicht helfen, andere zu beeinflussen und „mehr“ zu werden?