Ein ungehaltener Beitrag zur Veranstaltung „Was wollen die Anarchist*innen?“
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag nimmt Bezug auf die im Titel genannte öffentliche Diskussionsveranstaltung in der Anarchistischen Bibliothek Fermento (Zürich), die dort am 9.2.2019 stattfand. Der Ankündigungstext kann unter bibliothek-fermento.ch gelesen werden.
8. Februar 2019, Gefängnis Zürich
Liebe Gefährten,
Angesichts der heutigen Diskussion zur Frage „Was wollen die Anarchisten?“ will auch ich mich hinsetzen und einige Überlegungen niederschreiben, die euch wahrscheinlich mit einiger Verspätung erreichen werden, da hier alles erst durch die Zensur muss.
Nicht im Gefängnis sein. Das ist irgendwie das erste, was mir gerade in den Sinn kommt. Aber es macht auch deutlich, wie die Panzertüre vor mir, dass es nicht ausreicht etwas zu wollen. Ohne Bedingungen, die es ermöglichen, den Gegenstand des Willens in der Realität zu erfassen und in der Handlung zu überwinden, bleibt es der bloße Ausdruck eines Wunsches, ähnlich dem jener, die noch an den Weihnachtsmann glauben, oder jener etwas Erwachseneren, die an eine objektive Kraft glauben, die in der Welt wirkt und uns eines Tages befreien wird. Ob man sie nun Gott, Vernunft, Dialektik oder Fortschritt nenne. Nichts dergleichen.
Für die Anarchisten sind diese abstrakten Prinzipien alle derselbe Betrug. Und vielleicht haben wir noch zu wenig darüber nachgedacht, dass archê bei den alten Griechen, noch bevor es Synonym für Herrschaft wurde, für das erste Prinzip stand, das allem zugrunde liegt. Es ist dieses ursprüngliche religiöse Element, woraus die Rechtfertigung der Autorität und schließlich des Monsters des Staates erwächst.
Also, in Ermangelung eines Weltgeistes, wie Hegel es nannte, oder dialektischen Materialismus, wie Marx in direkter Abwandlung, müssen wir uns selber befreien. Und dazu, offensichtlich, müssen wir es wollen. Aber auch der Wille kann uns ein Gefängnis sein. Ich zum Beispiel habe manchmal, draußen, angesichts der Schandtaten, die um uns geschehen, Momente gehabt, in denen ich mich gefangener fühlte als jetzt hier drinnen. Hier sieht sich der Wille zwangsläufig veranlasst, seinen Perimeter zu reduzieren. Draußen aber stößt er gegen Mauern, die weniger deutlich und eben deshalb perfider sind. Diese letzteren sind es an erster Stelle, die wir erkennen und Stein für Stein abtragen müssen; nur dann können eines Tages die konkreten Mauern der Gefängnisse fallen.
Ich will deshalb hier nicht von der Schönheit der Anarchie sprechen, von der Reinheit der anarchistischen Prinzipien. Das sind eitle Dinge, für die wir auf ein ganzes Jahrhundert der anarchistischen Propaganda verweisen können. Ich will meine Aufmerksamkeit weniger auf des Problem des „Was“ denn auf jenes des „Wollen“ legen.
Wir können nur wollen, was wir in irgendeiner Weise verstehen, also uns als Gegenstand vorstellen können, und sei es auch die sonderbarste aller Utopien. Das heißt unser Wollen ist durchaus nicht so frei, wie sich eine voluntaristische Tradition auch vieler Anarchisten lange darauf stützte. Es ist abhängig von unserem Vorstellungshaushalt, von unserer Kultur im weiten Sinne. Wobei unter letzterer nicht nur die literarische Überlieferung und allgemeine Bildung zu verstehen ist, sondern auch was und wie wir essen, uns kleiden, miteinander umgehen, kommunizieren, wertschätzen; kurz, alle Aspekte des alltäglichen Lebens. In einer Gesellschaft, die dabei ist, alle diese Aspekte in einen geschlossenen Kreis hineinzuziehen, der von der Technologie verwaltet wird, bietet sich der Macht die Möglichkeit, die Kultur immer mehr von der Realität zu lösen. Das betrifft nicht nur jene überwiegende Masse der Ausgeschlossenen, die passiv verwaltet werden, sondern auch jene selbst, die Verwaltungspositionen besetzen. In diesem Sinne kann man davon sprechen, dass die Technologie sich den Staat, die alten politischen und wirtschaftlichen Herrschaftsstrukturen allmählich einverleibt.
Einige haben den Begriff der Derealisierung verwendet, in einem noch unsicheren Versuch, diesen allumfassenden Wandel zu verstehen, der unser aller Anstrengung bedarf. Wir müssen die Technologie nicht bloß als die Gesamtheit ihrer Apparate, sondern vor allem auch als einen Schleier von substanzlosen Formen und Inhalten verstehen, der sich immer mehr über die Realität legt, dahin strebend, sie als Referenz zu ersetzen. Ist dieser Kreis einmal dicht geschlossen, werden die kulturellen Inhalte, unser Vorstellungshaushalt, dem Willen gar keine befreienden Handlungsmündungen mehr eröffnen, die doch zumindest eines Kontakts mit der realen Substanz des Machtübergriffs und der Ausbeutung bedürfen. Der Wille, sich zu befreien, verwandelt sich nur noch in symbolische und Ersatzhandlungen, die im eigenen kulturellen Universum von gesonderten Denkmuster eingeschlossen bleiben. Es grassieren aufgeladene Schlagworte und Symbole, Geschwätz und Rituale. Unnötig zu bemerken, dass auch die Anarchisten von dieser Entwicklung nicht unbeeinflusst sind. Und das hat vielleicht auch damit zu tun, dass wir zu sehr glaubten, die Wahrheit oder den Rosenkranz der Prinzipien in der Tasche zu haben, ohne es nötig zu haben, uns einer weiteren Vertiefung der Probleme anzunehmen, die letztlich stets Probleme in Hinsicht auf das Handeln in der Realität sind.
Die Anarchisten haben eine Idee von Freiheit, die sich weder in Abstufungen noch in Sektoren unterteilen und auch nicht in Worten einschließen lässt. Da sie nicht bloß die bestehende Herrschaft zu einer Anpassung anregen oder eine neue, veränderte Herrschaft hervorbringen wollen, müssen sie von einer globalen Sicht ausgehen. Unser Denken ist gezwungen, die Welt in getrennten Begriffen und Situationen zu erfassen, als Behelfsmittel, um dem Verstand Orientierung zu geben. Die Welt als Ganzes aber, und somit auch die Idee von Freiheit, ist eins und ununterteilbar und hat nur in unserem Herzen Platz. Anders wäre die Aussage Bakunins nicht verständlich, dass wir nicht wirklich frei sein können, solange noch ein Mensch auf der Welt in Ketten liegt. Heute mehr denn je, denke ich, müssen wir lernen, nicht nur auf die Worte zu achten, die oft trügerisch sind, und mehr auf das Herz; auf das, was zwischen den Worten mitschwingt. Die Suche nach Affinität, wenn nur die Worte kommunizieren, bleibt letztlich unergiebig. Wer den Kopf eines Esels hat, sagte einmal jemand, kann nicht plötzlich das Herz eines Löwens in sich entdecken.
Die Rebellion, scheint mir, hat heute nur noch den Ausweg, direkt auf den obengenannten Kreis abzuzielen. Und dazu gehört auch, uns die kulturellen Mittel anzueignen, die uns die Macht auf allen Ebenen entziehen will. Ein Element davon ist sicher die Kenntnis über den Gegenstand des Willens, die aber auch ein Hindernis werden und den Kontakt mit der Realität verlieren kann, wenn sie abschließenden Anspruch hat. Ein anderes Element, noch viel wichtiger, sind gewissen Eigenschaften, die nicht sehr modern scheinen mögen, aber Grundlage sind für die Überwindung vom Willen zur Handlung: der Mut, an erster Stelle, die Entschlossenheit, aber auch, und in keinerlei Gegensatz dazu, die Liebe, in ihrem allgemeinen Fundament, die Offenheit für Andere, die Sensibilität, die Kreativität.
Das Buch, das bis heute im Zentrum der kulturellen Entwicklung zu stehen schien, ist sicher ein Gegenstand, der aus der Mode gekommen ist, und zu Recht, in seiner Anmaßung, die Welt zwischen zwei Deckeln einzufassen. Und sicher, wir können der Ansicht sein, es dahin zu schicken, wo der Pfeffer wächst. Als provisorische Reflexionsgelegenheit könnte uns jedoch ein quasi unerschöpflicher Schatz an heute selten gewordenen Anregungen entgehen, die obengenannten Elemente zu vertiefen und zu verwurzeln.
Um abzuschließen denke ich, die Anarchisten wollen die revolutionäre Umgestaltung der etatistischen1 Gewaltordnung, welche durch ihre ganze Geschichte hindurch, um einer herrschenden Gruppe Privilegien zu verschaffen, auf Kriegen, Ausbeutung und Massenarmut basiert. Eine Umgestaltung in Richtung eines staatenlosen, dezentralisierten, selbstorganisierten Zusammenschlusses von Individuen, Gruppen, Gemeinden etc.. Nicht alle, aber die meisten sind der Ansicht, dass die technologischen Produktionsbedingungen von heute mit der Perspektive einer freiheitlichen Selbstverwaltung unvereinbar ist. Die Anarchisten wollen sich spezifisch als revolutionäre Minderheit organisieren, um in erster Person zu kämpfen, sowie die Selbstorganisation der Menschen in ihren Kämpfen fördern. Letztere allein kann Grundlage einer revolutionären Umgestaltung sein, die nicht eine neue politische Gruppe an die Macht bringen soll. Nicht alle, aber die meisten sind der Ansicht, dass eine solche Umgestaltung nicht Resultat eines Großen Abends oder einer bloß eduktionistischen2 Arbeit sein kann, sondern einer langen, manchmal auch schmerzhaften Reihe von Zwischenkämpfen und Aufstandsversuchen der Unterdrückten. Deshalb wollen sie den Wandel der sozialen Realitäten und Konflikte, in ihrem globalen Sinne, ausreichend verstehen, um vorschlagend und vorantreibend und nicht wie ein Fremdelement sich dort einzubringen, wo sie ein Entwicklungspotential in diese Richtung sehen.
Natürlich mag ich falsch liegen, aber es ist das, was ich in der Erfahrung der anarchistischen Bewegung auszumachen glaube und auch persönlich denke. Ich denke außerdem, dass allumfassende Umgestaltungen der Macht im Gange sind, die unseren Untergang bedeuten könnten, ohne dass wir es merken, wenn wir uns nicht einer Erneuerung öffnen. Und das Neue kommt stets durch die Handlung heran.
Ich hoffe, der heutige Abend bot Anlass zu einer lebhaften Diskussion, in der niemand zu widersprechen und konfrontieren scheut, aber nicht weil angetrieben vom Willen, Recht zu haben, sondern von dem, besser zu verstehen um besser zu handeln. Schließlich, und das seien wir uns stets bewusst, sind es nichts Geringeres als unsere Leben, die auf dem Spiel stehen.
„Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“
– F. Nietzsche, „Also sprach Zarathustra“