Bericht des FdA für den IFA-Kongress in St. Imier 2012
Soziale und politische Entwicklung in Deutschland
Seit 2009 regiert eine konservativ-liberale Koalition in Deutschland. Diese ist als Regierung wenig erfolgreich: Ein Skandal folgt dem nächsten (der Verteidigungsminister musste wegen eines Plagiats zurücktreten, der Bundespräsident wegen Korruptionsverdacht) und seit ihrer Regierungsübernahme sind zahlreiche ihrer Gesetze vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig deklariert und damit zurückgenommen worden (selbst das Bundestagswahlrecht ist verfassungswidrig – das Land hat zurzeit kein gültiges Wahlrecht). Kanzlerin Merkel bleibt dabei aber stets beliebt. Sie ist eine reine Machtpolitikerin, die sich stets nach dem richtet, was sie oben hält (zum Beispiel im Fall ihrer Kehrtwende beim Thema Atomkraft nach der Katastrophe in Fukushima).
Insgesamt haben die Vorgänge um die Regierung eine (sich bereits im letzten Jahrzehnt ausbreitende) große Politik(er*innen)verdrossenheit befördert. Die Mitgliedszahlen bei de großen Parteien gehen konstant zurück und der Altersdurchschnitt der Mitglieder steigt immer mehr. Die traditionellen Parteibindungen werden in den jüngeren Generationen nicht mehr fortgesetzt. Ein Beispiel dafür ist die bereits 2006 gegründete Piratenpartei, die in 2011 urplötzlich große Erfolge feierte: Seit September 2011 zog sie bei allen Landtagswahlen ins Parlament ein, angefangen mit Berlin (8,9%) bis Nordrhein-Westfalen (7,8%). Einer Analyse von Leuten mit „Political Compass“-Werten zufolge, ordnen sich die meisten Mitglieder als „links-liberal“ bis libertär ein. Anderen Studien zufolge sinkt (zumindest in Ostdeutschland, wohl aber auch darüber hinaus) die Wahlbeteiligung vor allem in subalternen und proletarischen Schichten massiv, während sie in (klein-)bürgerlichen Kreisen nahezu gleichbleibend stabil bleibt.
Die beiden großen Parteien, die konservative CDU und die sozialdemokratische SPD, haben sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr angenähert, die SPD orientierte sich immer mehr nach dem New-Labour-Modell von Tony Blair in GB und entfernte sich damit von der klassischen Wählerschichten der Sozialdemokratie, während sich die CDU „sozialdemokratisierte“. Die Unterschiede sind heute marginal und die Politik ist in fast allen Bereich gleich, ganz unabhängig der konkreten Regierung.
Die größten sozialen Einschnitte brachte die unter einer rot/grünen Regierung unter Gerhard Schröder eingeführte Agenda 2010: eine Reform des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarktes, die von 2003 bis 2005 von der aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen gebildeten Bundesregierung weitgehend umgesetzt wurde. Als Grundlage der Reform diente der „Wirtschaftspolitische Forderungskatalog für die ersten hundert Tage der Regierung“ der Bertelsmann-Stiftung – seinerzeit u. a. im Wirtschaftsmagazin Capital publiziert –, dessen Inhalte zu weiten Teilen übernommen wurden.
Dazu gehörten hauptsächlich soziale Einschnitte und eine Flexibilisierung und Präkarisierung des Arbeitsmarktes: Lockerung des Kündigungsschutzes, Zwang für Arbeitslose zur Annahme angebotener Stellen, mehr Druck auf Empfänger*innen von Sozialleistungen, steigende Kosten für medizinische Leistungen. Die Reform wurde damals von allen Parteien getragen außer der „Linken“. Der ganze Prozess wurde stark diskursiv begleitet und kam eben von der vorgeblich „linken/linksliberalen“ Regierung, so dass sie nur zu ganz schwachen Protestregungen führte. Erwähnenswert ist allerdings die Kampagne “Agenturschluss” und in diesem Jahr der M31, der für die BRD mit ca. 6.000 Teilnerhmer*innen eine der größten explizit libertären Demonstrationen seit Jahrzehnten war.
Heute ist Deutschland sozial und wirtschaftlich weitgehend stabil. Große Proteste breiter Bevölkerungsschichten gibt/gab es eigentlich nur im Bereich der Atomkraft (insbesondere im Kontext der Castor-Transporte). Interessanterweise waren es wohl gerade die Maßnahmen um die Agenda 2010 sowie die Tatsache, dass Deutschland zu den Geberländern gehört, dass die Krise hierzulande bislang nur schwache Auswirkungen hatte und im Bewusstsein der Bevölkerung eher mit den Krediten an Länder wie Griechenland und Spanien sowie mit der Krise des Euro assoziiert wird. Insgesamt werden dabei sehr starke Ressentiments gegen die „Schuldnerländer“ bzw. deren Bevölkerung geschürt.
Der schleichende Delegitimierungsprozess der politischen Klasse und des als solches empfundenen Parteienklüngels geht einher mit einem Erstarken bürgerrechtlichen/zivilgesellschaftlichen Engagements, der seinen Ausdruck in lokale Kämpfe hat, die zum Teil auch nach außen strahlen, wie etwa im Fall des Konflikts um den Bau eines unterirdischen Bahnhofs in Stuttgart („Stuttgart21“). Es lässt sich ein stärkerer Wunsch nach lokaler Beteiligung ausmachen, der zum Teil wohl auch zum Erfolg der Piratenpartei beiträgt. Die Katastrophe in Fukushima und der Widerstand gegen Stuttgart21 führten auch dazu, dass im traditionell konservativen Bundesland Baden-Württemberg nun zum ersten Mal ein grüner Ministerpräsident regiert.
Das meiste Potential zu einer massenhaften Kritik an den herrschenden Zuständen hat zurzeit wohl die von breiteren Kreisen getragene Kritik an Mieterhöhungen in den Städten und dem Phänomen der Gentrifizierung. Insbesondere in Berlin kommt es derzeit zum einer stärkeren Mobilisierung in diesem Bereich.
Die gefährlichste Entwicklung für kritische Bewegungen kommt von dem Überwachungsdrang staatlicher Behörden. Da kommt es zum Einsatz des so genannten “Bundestrojaners” oder eine Massenüberwachung von Mobiltelefonen in Dresden, beides im Nachhinein als illegal erklärt. Dennoch wird es gemacht. Die Behörden sind offensichtlich interessiert, ihre Möglichkeiten auszuloten und auszuweiten.
Die weitere Entwicklung in Deutschland ist ungewiss, zumal es bei der 2013 anstehenden Bundestagswahl vermutlich erneut zu einer großen Koalition aus CDU und SPD kommen wird. Was die EU-Politik angeht, so hat das Bundesverfassungsgericht der Umgehung des Parlaments erstmal einen Strich durch die Rechnung gemacht. Dennoch sind die Wünsche nach einer Übernahme der (Finanz-)Souveränität kriselnder Staaten in der EU durch die Troika (wie letztes Jahr in Griechenland zu beobachten).
Ein interessanter Aspekt ist der massive Vertrauensverlust, den die Sicherheitsorgane zurzeit im Zuge der Ermittlungen zum NSU-Komplex erleben. Dabei geht es um die vermutliche Vertuschung von Informationen und den möglichen Schutz des “Nationalsozialistischen Untergrunds” durch den Verfassungsschutz verschiedener Bundesländer. Die NSU war eine Gruppe von Neonazis, die vermutlich 10 Personen zwischen 2000 und 2006 ermordeten, ohne dass die Sicherheitsdienste davon gewusst hätten.
Entwicklung der anarchistischen Bewegung in Deutschland
In den letzten fünf Jahren hat es eine insgesamt positive Entwicklung im Bereich des Anarchismus. Gemeint ist damit nicht die Tatsache, dass es in den Medien (besonders in den Feuilletons) häufiger positive Bezugnahmen zum Anarchismus gibt, sondern die organisatorische Entwicklung. Obgleich es natürlich Gruppen gibt, die in dieser Zeit eingegangen sind, wächst die Zahl dezidiert anarchistischer Gruppen. Neben den älteren Organisationen FAU (anarchosyndikalistisch) und FdA (föderalistisch) hatten die Anarcho-Syndikalistische Jugend (ASJ) und das Anarchistische Netzwerk Südwest die rasanteste Entwicklung in den letzten drei Jahren. Zwei weitere Bereiche erlebten einen Aufschwung: libertäre Kongresse und libertäre Buchmessen: Im April 2009 fand in Berlin ein 4-tägiger anarchistischer Kongress statt, an dem ca. 500 Personen aus ganz Deutschland teilnahmen. 2010 und 2011 fanden in Dresden je eine Woche lang Libertäre Tage statt, an denen ebenfalls Hunderte von Personen teilnahmen. 2010 gab es die erste Libertäre Medienmesse in Oberhausen statt, an der nicht nur libertäre Verlage teilnahmen, sondern auch Projekte aus anderen Bereichen, etwa Radio, Grafik und Internet. Direkt nach St. Imier wird es die zweite Libertäre Medienmesse geben, diesmal in Bochum (24.-26. August 2012). Im April 2011 gab es in Mannheim eine libertäre Buchmesse, die 2013 zum zweiten Mal stattfinden soll. Insgesamt gibt sehr viel mehr Kontakt und Austausch zwischen anarchistischen Gruppen als noch vor 5 oder gar 10 Jahren.
Der Anarchismus ist allerdings weiter eine marginale Bewegung, auch innerhalb des linksradikalen Spektrums, das weiterhin von autonomen Zusammenhängen bestimmt wird. Die fehlende Legitimation der orthodox-kommunistischen Ideologien sowie der Niedergang der autonomen Gruppen (wo früher sehr viele dezidierte Anarchist*innen aktiv waren) fördern zurzeit wohl das Entstehen libertärer Gruppen. Weiterhin ist es jedoch so, dass die meisten Anarchist*innen in Deutschland sich nicht in den anarchistischen Gruppierungen organisieren, sondern im Regelfall eher themenbezogen in heterogenen Projekten und Gruppen arbeiten. Eine breite Diskussion über kommunistische und anarchistische Ansätze zur befreiten Gesellschaft findet innerhalb der radikalen Linken Deutschlands nicht statt. Auch unter den Anarchist*innen wird das politische Bekenntnis im Regelfall eher an unmittelbaren Anti-Haltungen (keine Zusammenarbeit mit Parteien, keine Toleranz gegenüber (auch linkem) Nationalismus), denn an weitergehenden Gesellschafts- und Umwälzungsmodellen festgemacht. Eine Auseinandersetzung mit Organisations- und Revolutionstheorien findet in der Regel nicht statt, was auch die Organisationsscheue der meisten allgemein-anarchistischen Gruppen mitbegründet.
Publizistisch lässt sich die Situation derzeit so beschreiben. Die beiden wichtigsten anarchistischen Publikationen sind die “Graswurzelrevolution”, die im September ihr 40-jähriges Jubiläum feiert, und die “Direkte Aktion”, die seit 1977 erscheint. Die gewaltfreie, graswurzelorientierte Graswurzelrevolution ist eine Monatszeitung mit einer Auflage von 3.500 bis 6.000 Exemplaren. Die Direkte Aktion, die Monatszeitung der FAU, hat eine Auflage von etwa 3.000 Exemplaren und eine deutlich anarcho-syndikalistische Ausrichtung mit entsprechenden Themenschwerpunkten. Die wichtigste allgemein anarchistische Zeitschrift, der vierteljährlich erscheinende “Schwarze Faden”, wurde 2004 eingestellt. Das neueste Projekt zur Herausgabe einer strömungsübergreifenden Zeitschrift ist die “Gaidao”, die Monatszeitung des FdA (mehr dazu später). Zwei weitere langjährige anarchistische Blätter wären der “Feierabend” (vor allem für Leipzig gedacht) und die “Proud to be punk” (vor allem für das dezidiert anarchistische Punkspektrum Ostdeutschlands) zu nennen. Auflage wohl jeweils um die 500.
Forum deutschsprachiger Anarchist*innen (FdA)
Das Forum deutschsprachiger Anarchist*innen (FdA) wurde 1989 als Initiative für eine Anarchistische Föderation (I-AFD) gegründet. Sie erlebte viele Aufs und Abs. Im Jahr 2000 wurde die I-AFD aufgelöst und durch das FdA ersetzt. 2005 wurde die aktuelle Prinzipienerklärung beschlossen. Seit 1991 war das FdA in der IFA organisiert.
Im Frühjahr 2009 gab es das vorläufig letzte FdA-Treffen. Danach reduzierte sich die Aktivität des FdA auf Diskussionen über eine interne Mailingliste und dem Entsenden von Delegierten zu den CRIFA-Treffen. Im Mai 2010 organisierte das FdA das CRIFA-Treffen in Berlin. An den beiden folgenden Treffen in Sofia 2010 und Reggio Emilia 2011 waren jedoch keine FdA-Delegierten vertreten. Das lag hauptsächlich an der damaligen Inaktivität als Föderation und der Tatsache, dass es keine Treffen gegeben hatte. Nicht zuletzt befördert durch das gemeinsame Projekt einer Monatszeitung und der direkten Zusammenarbeitsmöglichkeiten im Forum kam in 2011 mehr Leben ins FdA.
Im Sommer 2011 kam es in Dresden zum ersten FdA-Treffen seit etwas mehr als 2 Jahren, wo auch gleich zwei neue Gruppierungen aufgenommen werden konnten, neue Vereinbarungen zur Arbeitsweise getroffen wurden und neue Projekte in Angriff genommen. Im September 2011 gab es dann ein weiteres Treffen, auf dem die gemeinsamen Vorstellungen einer Zusammenarbeit in der IFA diskutiert wurden und entsprechenden Beschlussvorschläge für den Kongress in St. Imier 2012 den Mitgliedsgruppen vorgelegt wurden.
Seit 1. Januar 2011 erscheint jeden Monat die Monatszeitung des FdA, die GaiDao, bislang hauptsächlich als Online-Erzeugnis (mit 28 oder 32 Seiten, mittlerweile auch immer wieder mit mehr als 40 oder 50 Seiten), das in manchen Fällen lokal ausgedruckt und verteilt wird. Bislang sind 20 Ausgaben erschienen. Es ist geplant, diese Zeitung monatlich drucken zu lassen. Auf der zweiten Libertären Medienmesse Ende August beginnt eine Kampagne dafür. Einer der Schwerpunkt der Zeitung ist die internationale Entwicklung. In mehreren Fällen gab es bereits Artikel über Schwesterföderationen oder deren Projekte (z. B. über Radio Libertaire in Paris – oder die Beteiligung der FAI Spanien an der 15M-Bewegung).Ebenso gab es zwei Sonderausgaben (zu den M31-Protesten wegen der Krise in Frankfurt sowie zu St. Imier), die je in einer Auflage von 1.000 Exemplaren gedruckt und in Deutschland, Österreich und der Schweiz verteilt wurden.
Im Fokus der aktuellen Arbeit des FdA stehen: Auf der einen Seite das Ausloten einer besseren Zusammenarbeit innerhalb der Föderation sowie Möglichkeiten zur Integration weiterer Projekte darin. Auf der anderen Seite sind dies konkrete Projekte aus dem Bereich des Ressourcensharings, wie etwa eine gemeinsam Liste von Referent_innen für Vorträge und Diskussionsabende, ein Reiseforum sowie Foren zum Teilen von Fähigkeiten und vorhandener Ressourcen. Das sind alles Projekte, die erst angefangen haben und bislang noch keine großen Ergebnisse gezeigt haben, die jedoch Entwicklungspotential aufweisen.
Die Mitgliedsgruppen des FdA organisieren fast alle regelmäßige offene Treffen und Büchertische. Darüber hinaus betreibt eine Gruppe eine Radiosendung, eine andere produziert Audio-Beiträge.
In Kooperation mit befreundeten Mail-Ordern produzieren wir 150 T-Shirts als Solidaritätsaktion mit St. Imier. Außerdem druckten wir 3.000 Plakate auf Deutsch. In Kooperation mit Genoss*innen außerhalb des FdA entstand eine deutschsprachige St.Imier-Koordination, die sich um die Bewerbung des Events in Deutschland kümmert – mit einem Vortragspaket (Präsentation, Flyer, Skript) für alle Gruppen, die daran Interesse haben könnten. Es wurden auch zwei Infotouren organisiert.
Insgesamt sehen wir, dass wir als Organisation noch vieles zu lernen haben und unsere Strukturen erst festigen müssen. Dennoch sind wir frohen Mutes für die Zukunft.