Auf zu neuen Ufern // In Gedenken an unsere jüdischen Genoss*innen

Heute jährt sich der Gedenktag der Opfer des Holocaust, dem industriellen Massenmord an rund 6.000.000 Jüdinnen und Juden durch deutsche Täter, bereits zum 72. Mal. Wenn wir den Opfern des Holocaust gedenken, dann gedenken wir auch unseren anarchistischen Genoss*innen, die in diesem grausamen Verbrechen ihr Leben ließen. Zu den wohl bekanntesten Personen zählen hier Erich Mühsam, ein jüdischer Anarchist und Dichter, der bereits im Jahr 1934 im brandenburgischen Konzentrationslager Oranienburg umgebracht wurde und Alexander Schapiro, ein jüdischer Anarchist aus der Ukraine, der als eines der ersten Opfer im Jahre 1942 seinen Tod im KZ Auschwitz-Birkenau fand. Dieses unsagbare Leid, welches den Opfern und Angehörigen zwischen 1933 und 1945 zugefügt wurde, hat seinen Ursprung auf deutschem Boden, dem Boden auf dem wir leben und es wurde maßgeblich durch das sogenannte deutsche Volk vorangetrieben. Und auch heute noch geschehen im hiesigen Staat antisemitische Gewaltverbrechen und Straftaten. Die Dunkelziffer ist hoch, von offiziellen Behörden werden längst nicht alle Straftaten erfasst. Wenn ein Nationalsozialist der AFD, einer sogenannten demokratisch-legitimierten Partei – unter ihnen Björn Höcke – Hass sähen kann, in dem er das neu errichtete Holocaustmahnmal in Berlin als “Denkmal der Schande” bezeichnet, spätestens dann sollten bei allen Verfechtern freiheitlicher Grundwerte die Alarmglocken klingeln. Anhänger antisemitischer Verschwörungstheorien finden sich sowohl bei der Alternative für Deutschland als auch bei der Linkspartei, sie finden sich auch in Medien und Weltöffentlichkeit, wir meinen hier beispielsweise Xavier Naidoo oder Mel Gibson, nur um einmal die Bandbreite des Spektrums aufzuzeigen, unter dessen Deckmantel sich Antisemitismus tummelt. Bewegungen wie die der Reichsbürger, welche vor wenigen Jahren noch belächelt wurden, sind heute eine erstnzunehmende Gefahr, die bereits ein Todesopfer zur Folge hatte. Doch wenn wir jetzt handeln; ist es noch nicht zu spät.

Wir schreiben das Jahr 2017 und eine Zeit, in dem sich in sämtlichen Parlamenten Europas und darüber hinaus, zum Beispiel in den Vereinigten Staat von Amerika oder Russland, ein massiver Rechtsruck vollzieht. Wenn institutionell verankerte Rechte für Homosexuelle und Frauen wieder abgeschafft werden, so wie wir es gerade in den Vereinigten Staaten wahrnehmen können und wenn nationalistische und rassistische Tendenzen – die auch von Behörden und Institutionen in Deutschland, wie an den großangelegten, rassistischen Polizeioperationen zur Silvesternacht in Köln zu sehen war – wenn solche Tendenzen in der Bevölkerung wieder zum Vorschein kommen, dann läuft eine Entwicklung nicht nur ganz gewaltig falsch, sondern sie wirft uns auch um Jahrzehnte zurück. Die Welt steht am Scheidweg und wenn wir uns als sogenannte Zivilgesellschaft weiterhin der Verantwortung entziehen, etwas gegen diese Tendenzen zu unternehmen, dann wird sie bald am Abgrund stehen.

Bürgers Alpdruck (Gedicht von Erich Mühsam)

Was sinnst du, Bürger, bleich und welk?
 Hält dich ein Spuk zum Narren?
 Nachtschlafend hörst du im Gebälk
 den Totenkäfer scharren.
 Er wühlt und bohrt, gräbt und rumort,
 und seine Beine tasten
 um Säcke und um Kasten.

 Horch, Bürger, horch! Der Käfer läuft.
 Er kratzt ans Hauptbuch eilig.
 Nichts, was du schwitzend aufgehäuft,
 ist seinen Fühlern heilig.
 Der Käfer rennt. Der Bürger flennt.
 In bangen Angstgedanken
 fühlt er die Erde wanken.

 Ja, Bürger, ja - die Erde bebt.
 Es wackelt deine Habe.
 Was du geliebt, was du erstrebt,
 das rasselt jetzt zu Grabe.
 Aus Dur wird Moll, aus Haben Soll.
 Erst fallen die Devisen,
 dann fällst du selbst zu diesen.

 Verzweifelt schießt die Bürgerwehr
 das Volk zu Brei und Klumpen.
 Ein Toter produziert nichts mehr,
 und nichts langt nicht zum Pumpen.
 Wo kein Kredit, da kein Profit.
 Wo kein Profit, da enden
 Weltlust und Dividenden.

 Hörst, Bürger, du den Totenwurm?
 Er fährt durch Holz und Steine,
 und sein Geraschel weckt zum Sturm
 des Leichenvolks Gebeine.
 Ein Totentanz macht Schlußbilanz
 und schickt dich in die Binsen
 samt Kapital und Zinsen.

Auch wir werden unter den Folgen menschenfeindlicher, autoritärer und wenn wir nicht Acht geben, totalitärer Politik zu leiden haben und erklären uns solidarisch mit den Kämpfen von Frauen und Menschen anderer diverser Geschlechtsidentitäten, Menschen anderer Herkunft und Hautfarbe, Menschen mit Behinderung, jüdischen Menschen und Menschen anderer Religionen sowie mit den Kämpfen aller Menschen, die unter irgendeiner Form der Unterdrückung zu leiden haben, die auch verursacht werden durch einen globalen Politikwechsel, den es zu stoppen gilt. Und diese Verantwortung geht uns alle an. Deshalb seid nicht nur aktiv bei alljährlichen Wahlen – denn diese verändern gesellschaftliche Tendenzen nicht. Seid vor allem aktiv und macht euch sichtbar, gegen jede Form der Unterdrückung, in euren Lebens-, Arbeits- und Wohnumfeldern, in euren Stadtteilen und schlussendlich auch in euren Städten.

Damit Geschichte sich nicht wiederholt.

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