Anarchismus in der Praxis: Solidarität mit Roma in Tschechien

Am 3. Februar erhielt das FdA folgenden Solidaritätsaufruf der Tschechoslowakischen Anarchistischen Föderation (CSAF):

Aufruf zur Solidarität und Unterstützung

Bitte unterstützt Familien mit Kindern in Ústi nad Labem. Sie wurden in einem Mietshaus ohne Heizung, Wasser und Elektrizität zurückgelassen, nur weil sie für eine menschenwürdige Unterbringung kämpfen.

Vor einigen Monaten wurden Roma-Familien von städtischen Beamten aus einem Haus evakuiert, das vom Besitzer verfallen gelassenen wurde. Es wurde versichert, dass nach Notunterkünften gesucht wird. In Wirklichkeit jedoch schauten keine kompetenten Personen danach. Es gab nur ungeziefer-verseuchte Räumlichkeiten mit unakzeptablen hygienischen Bedingungen oder Wohnungen von Miethaien(1) oder Schutzhäuser, wo nur Mütter mit Kindern wohnen durften, aber keine ganzen Familien. Sie suchten auch selbst vergeblich nach Unterkünften, denn als Unterprivilegierte und zudem Sinti/Roma werden sie permanent diskriminiert. Den Familien wurde nicht erlaubt selbst an offiziellen Verhandlungen über ihr Schicksal teilzunehmen.

Vom 31. Januar an versuchten sie in Verhandlungen mit den Verantworlichen (Besitzer*innen, Vermieter*innen, Beamt*innen) zu treten um zu einer Lösung der Situation zu finden. Dabei wurden sie von Aktivist_innen unterstützt, die sich in der Initiative Bydleni pro vsechny “Wohungen für alle” organisiert haben (darunter auch Mitglieder der CSAF). Die Organisation Clovek v tísni “Stiftung Mensch in Not” war nur formal beteiligt. Diese Versuche trugen bisher noch keine Früchte. So sind die Familien zusammen mit den Aktivist*innen im Mietshaus geblieben. Seit Freitag Morgen haben die Familien kein Wasser, keine Heizung und keinen Strom und einige Kinder sind krank. Zusätzlich schürt die Boulevard Presse die vorhandene, rassistische Haltung gegen die diskriminierten Familien.
Bitte unterstützt diese Familien mit eurer persönlichen Anwesenheit und verbreitet die wahren Informationen über diese Situation weiter.

CSAF

(1) Gemeint sind “Geschäftemacher*innen mit Armut”, die Mietwucher bei Sinti/Roma betreiben

Im folgenden Artikel von der Website des Libertären Netzwerks Dresden wird dann der weitere Fortgang dieser Geschichte geschildert. Auf der Seite des LNDD finden sich weitere Informationen zum Thema:

Das Wunder von Usti: Die Roma-Familien der Besetzung erhalten neue Wohnungen

Am vergangenen Wochenende spitzte sich die Lage in Usti zu. Die Versorgung des besetzten Mehrfamilienhauses mit Essen sowie die Kälte wurden mehr und mehr zum Problem. Zudem war seitens der Behörden keinerlei Verhandlungsbereitschaft zu erkennen und auch mit Unterstützung der Nachbarschaft war nicht zu rechnen, wie das Rufen rassistischer Parolen durch kleine Gruppen vor dem Haus zeigte. Daher schickte die Anarchistische Föderation aus Tschechien und der Slovakei (CSAF), die sich stark für Roma-Belange engagiert, eine Bitte um solidarische Hilfe an das Forum deutschsprachiger Anarchist*innen (FdA). Aktivisten aus Gruppen des Libertären Netzwerks sammelten daraufhin am Samstagabend 80€ Spendengelder, übergaben sie der Initiative “Housing for All” und halfen vor Ort.

Am Sonntag kam es dann zu einer Erlösung der Betroffenen, die man als “das Wunder von Usti” bezeichnen könnte. Am besetzten Plattenbau erschien der anscheinend einzig nicht rassistische Vermieter von Usti und bot den Roma-Familien sofort den Einzug in ein saniertes Mehrfamilienhaus zu ortsüblicher Miete an. Er gab an den Protest im Fernsehen gesehen zu haben und helfen zu wollen. Für die Familien ist es ein starker Zuwachs an Lebensqualität, denn sie bezahlen nun nur noch ca. 50% des vorherigen Mietzins in einem bewohnbaren Gebäude. Zuvor mussten sie 14500 Kronen (ca.580€) für eine Zweizimmer-Wohnung in einem heruntergekommenen Plattenbau voller Ungeziefer aufbringen (2).

Hintergrund ist die antiziganistische Haltung weiter Teile der weißen, tschechischen Bevölkerung, die verhindert, dass Roma Wohnungen auf dem Markt erhalten. Die einzigen Vermieter, die bereit sind Wohnungen an Roma zu vermieten sind sog. “Geschäftemacher mit Armut”, die Wuchermieten für heruntergekommene, sonst unvermietbare Gebäude verlangen. Da die tschechische Sozialversicherung jedoch jedem Bürger eine Wohnung zusichert, muss sie diese überzogenen Mieten bezahlen. Im vergangenen Jahr wurde unter Anderem eine Frau von ihrem einstürzenden Haus erschlagen.

Obwohl die Besetzung ein gutes Ende genommen hat, kann nicht von einer entschärften Lage bezüglich der Roma in der Region ausgegangen werden. Viel mehr hat der couragierte Einsatz eines Einzelnen die Behörden davor bewahrt Stellung zur Diskriminierung der Roma beziehen zu müssen. Das strukturelle Problem bleibt ungelöst und der Rassismus der Bevölkerung bestehen. So wird vor Ort in naher Zukunft mit erneuten Krisen gerechnet – seien es Pogrome, seien es durch Diskriminierung generierte humanitäre Notsituationen. Aktivist*innen beiderseits der Grenze planen daher ein gemeinsames Treffen um ein Handlungskonzept für kommende Krisen zu erarbeiten. Interessierte Akteur*innen können sich per Mail an das Libertäre Netzwerk wenden.

Außerdem werden immer noch Spenden für Unkosten der Besetzung und Kautionen der neuen Wohnungen benötigt. Die Kautionen können später zurückbezahlt werden und so kann auch ein Darlehen überwiesen werden. Es werden noch 1000€ benötigt.

Spendendaten:
Empfänger: Konexe
IBAN: CZ43 2010 0000 0025 0027 1703
BIC: FIOBCZPPXXX
Verwendungszweck: dormitory (wenn Darlehen zusätzlich: loan)

Die Initiative “Housing for All” hat zu den Ereignissen eine Pressekonferenz gegeben.

(2) Weitere Recherchen haben ergeben, dass die zuerst veröffentlichte Summe von 16500 Kronen zu hoch angesetzt war. Sie bezieht sich außerdem auf eine voll, bzw. eigentlich über belegte Wohnung, was den Normalfall ausmacht. Das ändert jedoch nichts am grundsätzlichen Sachverhalt. Genau genommen ist diese Summe also zu pauschal veranschlagt. In Wirklichkeit hängt der Betrag unter anderem von der Wohnungsbelegung ab. Je belegter die Wohnung um so höher war auch die Miete. Das hängt mit Regelungen des tschechischen Sozialsystems zusammen, die uns erläutert wurden, aber hier nicht weiter dargelegt werden sollen. Sie sind ähnlich komplex, wie etwa Berechnungsmethoden von ALG2, Wohngeld oder BAföG und würden euch Leser*innen nur langweilen.