Eine Reise ohne Rückfahrschein
Es fühlte sich zwar an wie ein ausgiebiger Sommerurlaub, war aber doch viel mehr als das: Rund 500 Menschen kamen beim Anarchistischen Sommercamp in Niederösterreich zusammen, um ein Leben ohne Zwänge zu gestalten und gemeinsam die anarchistische Theorie mit solidarischer Praxis zu füllen.
Ich sitze auf einer Parkbank und schreibe Postkarten an meine Familie. Schließlich bin ich ja im „Sommerurlaub“ – wenn mensch es so nennen will. Doch ich merke, dass ich in den wenigen Sätzen kaum erklären kann, was ich hier gerade erlebe. Das Sommercamp kann so viele der Fragen beantworten, die ich mir immer wieder anhören muss: Wie soll das denn funktionieren ohne Staat und ohne Chef*innen? Würden Menschen wirklich freiwillig arbeiten? Und schlagen wir uns nicht alle irgendwann die Köpfer ein, wenn niemand für „Recht und Ordnung“ sorgt? Die anarchistische Theorie ist oft schwer zu vermitteln, denn sie erscheint in Anbetracht der grausamen Realität so utopisch. Und doch: Sie lässt sich in die Praxis umsetzen. Das Anarchistische Sommercamp hat nur einen weiteren Beweis dafür geliefert.
Als wir uns auf den Weg nach Österreich machen, weiß ich nur grob, was mich erwartet: Camping, Workshops, Diskussionen am Lagerfeuer und Gemeinschaftsdienste. Und ich bin tatsächlich etwas skeptisch, ob die Organisation eines solchen Treffen wirklich funktioniert, wenn alles auf Freiwilligkeit beruht. Schließlich muss auch ich mir jeden Tag die kapitalistische Propaganda über finanzielle Anreize, Karriere, „faule“ Erwerbslosen und so genannte Sozialschmarotzer*innen anhören. Natürlich gilt da als naiv, wer glaubt, dass Menschen freiwillig Toiletten putzen, drei Stunden lang das Abendessen vorbereiten, Außenduschen und Zelte aufbauen oder das 200 Teller abspülen.
Hierarchien bekämpfen statt aufbauen
Ein fataler Trugschluss. Denn Menschen sind nicht nur in der Lage zu Solidarität und Kooperation, sie können sich auf diesem Wege auch ein gewaltfreies und gleichberechtigtes Miteinander schaffen, das keine herrschaftlichen Strukturen braucht. Eine Gesellschaft, die Hierarchien aktiv bekämpft statt sie aufzubauen und zu verfestigen. Eine Gemeinschaft, in der jeder Mensch seinen individuellen Beitrag leistet und gleichzeitig vom Ganzen profitiert – ganz nach den eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen. Und einen Ort, an dem alle selbst entscheiden, wie sie ihr Leben gestalten, ohne gezwungen zu sein, ihre Lebenszeit zu verkaufen und die eigene Persönlichkeit zu unterdrücken.
Geschichte der A-Camps
Für zehn Tag entsteht in Österreich ein solcher Ort. Die Vorbereitung begann vor eineinhalb Jahren, als sich einige Anarchist*innen aus Wien entschlossen, die Geschichte der A-Camps nach ein paar Jahren Pause wieder aufleben zu lassen. „Die früheren Camps waren sehr wichtig für die anarchistische Vernetzung und hat viele junge Leute in die Szene gebracht“, sagt Michi vom Orga-Team. „Wir haben sie immer als sehr schön empfunden, auch weil jedes Mal vieles daraus entstanden ist.“ Die Wiener*innen suchten ein passenden Ort, organisierten die nötige Infrastruktur und behalten während des Camps den Überblick über die Finanzen. Alles andere bleibt den Teilnehmenden überlassen. „Erwarte nicht, dass bestimmte Leute alles sauber machen, sich um deinen angenehmen Aufenthalt kümmern oder das Orga-Team alles organisiert und sich verantwortlich fühlt“, heißt die Botschaft auf den Info-Flyern. Stattdessen gilt: Selbst organisieren, was gewünscht und gebraucht wird.
Pinnwänder voller Workshops
Der Großteil des dichten Workshop-Programms entsteht also erst auf dem Camp selbst. Nur einige Gruppen waren zuvor angefragt worden, ob sie etwas anbieten möchten. Die Pinnwand füllt sich schnell mit den verschiedensten Ankündigungen: Feminismus und queerer Aktivismus, Do it yourself- und Bau-Workshops, Diskussionen über politische Strategien, Aktionstrainings sowie Präsentationen von bestehenden selbstorganisierten Projekten sind nur ein Ausschnitt aus den vielen Themen. Abends stehen Konzerte, Lesungen, Filme, Spiele und Parties auf dem Programm.
Gleichzeitig und trotz der vielen Möglichkeiten tragen sich genug Menschen in den Dienste-Plan für die Reinigung von Duschen und Toiletten, die Küche, die Begrüßung von ankommenden Menschen und die Kinderbetreuung ein. Ganz nebenbei entsteht ein umfangreicher Info-Shop mit Broschüren, Büchern und Flyern. Mehrere Laptops und Wlan stehen zur freien Verfügung, Ressourcen vom Druckerpapier bis zum Gitarre werden gemeinsam genutzt. Alle fühlen sich gemeinsam verantwortlich für Ort, Materialien und Atmosphäre.
Ohne Mampf kein Kampf
Zwei Kochkollektive aus Tschechien und der Schweiz versorgen das Camp mit veganem Essen – und nehmen dabei wie selbstverständlich Rücksicht auf unterschiedliche Bedürfnisse wie Unverträglichkeiten und Allergien. Bis zu 260 Portionen servieren sie pro Mahlzeit. Beim Schnippeln werden sie immer von einigen Freiwilligen unterstützt. Auch den Spüldienst übernehmen jeden Tag andere Menschen.
„Das Camp ist größer als die vorherigen – und auch internationaler“, sagt Michi. Rund 500 Anarchist*innen aus schätzungsweise 20 Ländern bleiben entweder für einige Tage oder den gesamten Zeitraum. Einige Aktivist*innen reisen sogar früher an, um den Platz vorzubereiten und aufzubauen. Als Richtwert bittet das Orga-Team um acht Euro pro Tag, um Lebensmittel, Baumaterial, Hygieneartikel, Feuerholz und Miete zu bezahlen. Wer so viel nicht geben kann, zahlt weniger. Wer mehr hat, leistet einen höheren Beitrag. Michi erklärt: „Wir haben uns gewünscht, dass sich das Camp selber trägt und es sieht so aus, als würde das auch klappen.“ Eventuelle Überschüsse können vielleicht sogar für das nächste A-Camp gespart werden.
Harmonische Stimmung
Auch wenn die persönlichen Eindrücke sicherlich sehr unterschiedlich sind – das Orga-Team ist zufrieden mit dem Ablauf des Camps: „Wir haben das Gefühl, dass die Stimmung trotz einiger Konflikte sehr harmonisch ist.“ Ein wichtiger Faktor dafür ist das Awareness-Team, das Betroffene von diskriminierendem oder gewaltvollem Verhalten unterstützt und versucht, einen Raum zu schaffen, in dem persönliche Grenzen gewahrt werden. Gleich zu Beginn des Camps sorgt ein sexistischer Konflikt für viele Diskussionen und eine intensive Auseinandersetzung mit männlichen Dominanzstrukturen. Mit verschiedenen Methoden und Formaten bearbeiten die Anarchist*innen das Thema, bis sie wieder eine gemeinsame Vereinbarung über den Umgang mit gewaltvollen Situationen finden.
Immer wieder wird deutlich, dass es keine Herrschaftsstrukturen braucht, um sich zu einigen. Im Gegenteil: Die gemeinsame und möglichst hierarchiefreie Auseinandersetzung mit einem Thema, die freiwillige Vereinbarung und die größtenteils wohlwollende Haltung den anderen Menschen gegenüber legen die Grundlage für den Erfolg dieses anarchistischen Experiments. Dabei steht außer Frage, dass es den einen Anarchismus nicht geben kann – dafür sind Menschen und ihre Bedürfnisse offensichtlich zu unterschiedlich. Doch es ist möglich, diese Unterschiede miteinander zu vereinbaren und allen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich zu entfalten.
Kritik praktisch werden lassen
Es ging beim A-Camp nicht nur darum, gemeinsam eine angenehme Zeit zu verbringen und sich in der Urlaubszeit wieder zu regenieren für das nächste Arbeitsjahr. Es ging vielmehr darum, der grundlegenden Kritik an Staat und Kapital einen ganz praktischen Ausdruck zu verleihen, die eigenen Verhaltensweisen und Überzeugungen zu reflektieren und schon heute so zu leben, als wäre die anarchistische Utopie bereits Wirklichkeit geworden – denn nur so kann sie es werden.
Eines hat das A-Camp schließlich aber doch mit einem normalen Sommerurlaub gemeinsam: Es ist zu schnell vorbei. Zum Glück gibt es aber unzählige Möglichkeiten, nach meiner Rückkehr so zu tun, als würde es weitergehen. Die gemeinsamen Erfahrungen und der Austausch mit anderen Aktivist*innen aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen und Lebenssituationen haben mir einen neuen Motivationsschub gegeben. Ideen und Denkanstöße, wie ich in meinem Alltag weiter und noch wirksamer gegen Herrschaftsstrukturen ankämpfen kann, habe ich jetzt mehr als genug. Und die passen auf keine Postkarte.
Weitere Infos: www.acamp2016.org
Artikel ursprünglich erschienen hier: https://dasmaedchenimpark.org/2016/09/04/eine-reise-ohne-rueckfahrtschein/