2023 in Chile
50 Jahre nach dem Militärputsch und der verfassungsgebenden Volksabstimmung: Anpassungen nach dem Putsch und neoliberale Konsolidierung
Im Jahr 2023 ist in Chile seit dem Militärputsch ein halbes Jahrhundert vergangen. Dieser veränderte die Geschichte des Landes und schuf ein neoliberales Laboratorium, dessen Modell sich noch immer in verschiedenen Teilen der Welt ausbreitet. Nach 50 Jahren sind die Wunden der Vergangenheit noch nicht verheilt, da viele Menschenrechtsverletzungen weiterhin straffrei bleiben, die während der Diktatur entworfene Verfassung noch immer in Kraft ist und es keine offizielle Verurteilung für den Staatsterrorismus gegeben hat.
Die politische Atmosphäre im Vorfeld der Gedenkfeierlichkeiten zum 50 Jahrestag war von dem offenen Prozess geprägt, der 2019 mit der Volksrevolte eingeleitet wurde, die das Land mehrere Wochen lang erschütterte und die jahrzehntelange Prekarisierung des Lebens der Bevölkerung als Folge des neoliberalen Experiments scharf kritisierte. Die Enttäuschung über eine politische Klasse, die sich seit dem Ende der Diktatur und der Rückkehr der Demokratie im Jahr 1990 der Vertiefung des Modells verschrieben hatte, verwandelte sich in Wut, die die Straßen mit Gewalt und Konfrontationen mit der Polizei und dem Militär füllte, wie es sie nie zuvor gegeben hatte. Gleichzeitig bildeten sich in den Stadtvierteln und Gemeinden spontane Versammlungen (Asambleas), in denen die Kontinuität des neoliberalen Modells diskutiert wurde und Politik sowie soziale Organisation auf eine Weise erlebt wurden, wie es die Demokratie nie zuvor zugelassen hatte.
Fast einen Monat nach Beginn der Demonstrationen stellte sich die gesamte politische Klasse geschlossen gegen den Aufstand und die politischen Parteien unterzeichneten das Friedensabkommen, an dem auch die neue institutionelle Linke, vertreten durch Gabriel Boric, teilnahm. Dies ermöglichte es ihm sich in den Medien zu profilieren, einen Pakt mit der Elite zu schließen und einige Zeit später zum Präsidenten gewählt zu werden. Das Abkommen beinhaltete die Verpflichtung des Staates eine neue Verfassung auszuarbeiten, die die politische Agenda übernahm und der Elite dazu diente, das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat und seine Institutionen, die seit dem Aufstand in Misskredit geraten waren, wiederherzustellen. Gleichzeitig kam es in der Bevölkerung erneut zu massiven Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Militär bei denen 31 Menschen starben, 11.000 verletzt wurden und 460 ein Augentrauma erlitten, weil sie von Uniformierten angeschossen wurden.
Während das Militär die Straßen kontrollierte, kehrte der Fokus auf die traditionelle Politik zurück, und die Energie der Revolte wurde von der Elite geschickt kanalisiert, um den Prozess einer neuen Verfassung als Ausweg aus der Krise zu konsolidieren. Dieser Prozess bedeutete einen turbulenten Zyklus von Verfassungsabstimmungen, Wahlkämpfen und Präsidentschaftswahlen in weniger als drei Jahren – eine Entwicklung, die zwei Auswirkungen hatte: Zum einen wurden die politischen Institutionen, die durch die Revolte in Frage gestellt wurden, wiederbelebt, zum anderen führte dies zu einer tiefen Erschöpfung und Lethargie der Bevölkerung in Bezug auf Politik und soziale Kämpfe. Letzteres ist das Ergebnis der bereits erwähnten letzten drei Jahre, in denen der politische Strudel auch das Verfassungsplebiszit vom Oktober 2020 umfasste, bei dem sich eine Mehrheit von 78 % für die Option „Ich stimme zu“ (Apruebo) für eine neue Verfassung ausgesprochen hat. Die Ausarbeitung eines Vorschlags für eine neue Verfassung wurde dann einer Gruppe von Mitgliedern des „verfassungsgebenden Konvents“ anvertraut, die im Mai 2021 gewählt wurden, mehrheitlich parteiunabhängig waren und die auf der Straße geäußerten Forderungen aufnahmen. Die Arbeit dieses Konvents wurde durch die Präsidentschaftskampagne geprägt, wobei die Linke die Arbeit des Konvents befürwortete und die Rechte sie ablehnte. Die Präsidentschaftswahlen im November 2021 wurden von Gabriel Boric gewonnen, der, obwohl er unter dem Banner der Revolte und gegen die traditionelle politische Klasse antrat, im Laufe der Monate an der Macht sein wahres Gesicht zeigte, indem er mit den neoliberalen Parteien regierte und das Modell fortführte.
Gleichzeitig wurde die Arbeit des Konvents durch Medienskandale beeinträchtigt, in die einige seiner Mitglieder verwickelt waren, was zusammen mit bestimmten Kommunikationsfehlern von der Rechten in einer Medienkampagne ausgenutzt wurde. Dieser gelang es in der öffentlichen Meinung Angst vor den vom Konvent vorgeschlagenen Änderungen zu schüren. Infolgedessen wurde die Volksabstimmung, die über die Annahme oder Ablehnung der vorgeschlagenen neuen Verfassung entscheiden sollte, für die gesamte wahlberechtigte Bevölkerung obligatorisch, was das Szenario völlig veränderte und die Wahlprognosen durcheinanderbrachte, sodass es im September 2022 zu einer überraschenden mehrheitlichen Ablehnung der Arbeit des Konvents kam. Dennoch musste der Prozess fortgesetzt werden, um das Ergebnis des ersten Plebiszits zu respektieren, d. h. dass Chile eine neue Verfassung erhalten würde. Zu diesem Zweck musste ein zweiter Verfassungskonvent gewählt werden, aber nun in einem politischen Klima der Resignation und der Volksverdrossenheit, das sich in einem geringeren Aufkommen unabhängiger Kandidaturen äußerte, was von der politischen Klasse ausgenutzt wurde, um die Beteiligung der traditionellen politischen Parteien zu sichern und zu diesem Zweck Quoten für die Parlamentarier*innen festzulegen, die sich den Gewählten anschließen sollten. So kam es zu den Wahlen vom Mai 2023, die von der Pinochet-Rechten mit großem Vorsprung gewonnen wurden, die mit der Ausarbeitung des neuen Verfassungsentwurfs in einem Klima der völligen Entfremdung der Bevölkerung von diesem Prozess begann.
Im September jährte sich der Militärputsch zum 50. Mal, in einer Atmosphäre der Polarisierung, die von der Presse gefördert wurde, und einer weit verbreiteten Gleichgültigkeit der Bevölkerung gegenüber diesem Thema, die auf die allgemeine Erschöpfung von der Politik zurückzuführen ist. Trotz alledem veranstalten organisierte soziale Gruppen aus der Bevölkerung im ganzen Land Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag. Und dies in einem politischen Szenario, in dem die Wunden der Vergangenheit noch nicht verheilt sind und in dem das schlimmste Erbe der Diktatur – der Neoliberalismus – immer noch lebendig ist.
Auf dieser Basis versuchte die Rechte eine Art Geschichtsrevisionismus zu betreiben, um die Diktatur zu beschönigen. Ein Beispiel dafür ist der Vergleich des ehemaligen Präsidenten Piñera zwischen dem Militärputsch und dem Aufstand von 2019 als gleichwertige Momente des demokratischen Zusammenbruchs. Dies erklärt die Reaktion der politischen Klasse nach der Revolte und die Absicht, künftige Revolten zu verhindern, indem repressive Gesetze verschärft wurden, die der Polizei mehr Befugnisse verleihen. Eines davon ist das sogenannte „Ley del Gatillo Fácil“, das im April verabschiedet wurde und die „privilegierte Selbstverteidigung“ festschreibt. Das heißt wenn ein*e Polizei- oder Militäroffizier*in von der Dienstwaffe Gebrauch macht, wird davon ausgegangen, dass sie „korrekt eingesetzt“ wurde, wenn in Notwehr handelte wurde.
Darauf folgte das Anti-Toma-Gesetz, das die Räumung von besetzten Grundstücken und Land erleichtert, was Tausende von Menschen betrifft, die Land besetzen, um zu leben, und damit den Konflikt zwischen dem Staat und dem Volk der Mapuche verschärft, die ihr angestammtes Land gegen Landbesitzer*innen und Forstunternehmen z.T. besetzen oder für die Rückgabe kämpfen. Am 27. November, drei Tage nach der Verabschiedung des Gesetzes, wurde die Mapuche-Gemeinschaft Aylla Varela als erste geräumt, nachdem sie einen Bauernhof in der Gemeinde Collipulli besetzt hatte, um ihren Anspruch auf das Land geltend zu machen. Auf symbolischer Ebene wurde die Unterstützung der neuen „progressiven“ Regierung für die repressiven Kräfte bereits angekündigt, als Boric sein Amt antrat und Ricardo Yáñez, den für die Repression während des Aufstandes verantwortlichen Polizeigeneral, im Amt beließ. Darüber hinaus ist Boric von seinen Wahlkampfreden/Versprechen abgekommen, die er im Vorfeld der Wahlen gab. So griff er beispielsweise den ehemaligen Präsidenten Piñera scharf an und schrieb ihm die Verantwortung für die Repression während des Aufstandes zu, nannte ihn aber im Laufe der Monate einen „Demokraten“.
Diese Aktualisierung des Modells bedeutet nicht nur eine repressive Verfeinerung, sondern geht auch mit einer Modernisierung des neoliberalen Extraktivismus einher, der nun mit der neuen Regierung eine scheinbar umweltfreundlichere Facette erhält, aber den kapitalistischen Raubbau mit neuen Forstprojekten, Lithiumabbau und grünen Wasserstoffanlagen fortsetzt.
So endete das Jahr mit der Volksabstimmung vom 17. Dezember und dem vom zweiten Verfassungskonvent mit rechter Mehrheit ausgearbeiteten Vorschlag, eines Textes, welcher der seit der Diktatur geltenden Verfassung gleichwertig oder sogar schlimmer war, abgelehnt wurde. Damit endete der verfassungsgebende Prozess, den die politische Klasse als Antwort auf die Revolte eingeleitet hatte, und hinterließ das Gefühl, dass sich alles geändert hat, um in der Wiege des Neoliberalismus alles beim Alten bleiben zu lassen.
Anarchistische Versammlung der Region Biobío, chilenische Region.
Januar 2024.